"Wo sind die Menschenrechte", skandieren rund 200 Männer und Frauen vor dem chinesischen Konsulat in Istanbul. Viele halten Plakate mit Fotos von Angehörigen hoch, die in der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang vermisst werden: Sie sind Uiguren, Angehörige einer muslimischen Minderheit in China. Hunderttausende Uiguren sind dort in Arbeits- und Umerziehungslagern interniert. "China, lass meine Eltern frei", steht unter dem Foto eines älteren Ehepaares, das eine Frau hochhält – sie heißt Semsiye und ist 35 Jahre alt. Ihre Eltern seien in China beide Beamte gewesen, berichtet Semsiye mit Tränen in den Augen. Weil sie mehrfach in die Türkei gereist waren, um ihre Tochter zu besuchen, seien sie zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
"Nur weil sie mich hier besucht haben, sind sie jetzt im Gefängnis – für 20 Jahre! Und wir wissen ja inzwischen alle, was dort geschieht, wie die Menschen dort gequält werden. Ich bin außer mir vor Verzweiflung - ich kann so nicht weiterleben. Ich habe seit vier Jahren nichts von meinen Eltern gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben oder tot sind!"
Viele, die zu der Mahnwache vor dem chinesischen Konsulat gekommen sind, erzählen von ähnlichen Schicksalen – von verhafteten Geschwistern, von verschwundenen Kindern, von vermissten Eltern, Freunden und Verwandten. Die Erwachsenen werden in Umerziehungslagern vermutet, die Kinder in staatlichen Kinderheimen. Ihre Angehörigen hier in der Türkei fühlen sich machtlos. Die Mahnwache sei ihre einzige Hoffnung, sagt Semsiye.
"Ich lasse täglich meine vier Kinder allein zuhause, während mein Mann bei der Arbeit ist, und komme hierher, um für meine Eltern zu flehen - in der Hoffnung, dass mich irgendjemand erhört. Wir wünschen uns hier alle nur, dass man uns hört."
50.000 Uiguren vermissen Rückhalt der türkischen Regierung
Wie vor dem Konsulat in Istanbul steht auch vor der chinesischen Botschaft in Ankara eine Mahnwache von Uiguren, im zentralanatolischen Kayseri wachen sie vor einer Moschee. Rund 50.000 Uiguren leben in der Türkei, es ist die größte uigurische Diaspora der Welt. Das liegt zum einen daran, dass Uiguren und Türken sich kulturell nah sind – ihre Sprachen sind verwandt, und auch Geschichte, Glaube und Brauchtum verbinden sie. Zum anderen liegt es daran, dass die Türkei bis vor wenigen Jahren großzügig uigurische Zuwanderer aufnahm – so auch Semsiye.
2012 sei sie mit ihrem Ehemann und dem ersten Kind in die Türkei gekommen, erzählt Semsiye, um ihren Glauben und ihre Kultur frei leben zu können – das sei in China damals schon schwierig gewesen.
"Wir danken der Türkei – sie hat uns aufgenommen, und wir sind ihr sehr dankbar. Aber nun bitten wir die Türkei, für uns eintreten und uns zu unterstützen."
Doch darum bitten die Uiguren bislang vergeblich. Einen Appell an China, die Menschenrechte der Uiguren zu achten, unterzeichneten im vergangenen Herbst 39 Staaten von Deutschland bis Japan – nicht aber die Türkei. Auch sonst vermissen die Uiguren türkischen Rückhalt, sagt der Universitätsprofessor Burhan Uluyol, der die Istanbuler Mahnwache organisiert hat und selbst Angehörige in den chinesischen Lagern vermisst.
"Nein, seit etwa vier Jahren bekommen wir keine Unterstützung mehr von der Türkei. Wir wissen nicht warum - ich frage mich auch dauernd, warum. Ob es um Geld geht oder was? Die Türkei hat uns früher immer zumindest verbal unterstützt. Aber gegen den Völkermord an den Uiguren tritt die Türkei nicht ein."
Drohende Auslieferung nach China
Neue Sorgen macht den Uiguren in der Türkei ein Auslieferungsabkommen mit China, das Staatspräsident Erdogan bereits unterzeichnet hat und jetzt vom Parlament in Ankara ratifiziert werden soll. Manche Uiguren fürchten, dass sie dann auch in der Türkei nicht mehr sicher sein werden. Die türkische Regierung ließ ihre Mahnwachen in Ankara und Kayseri kürzlich von der Polizei auflösen. Auch vor dem Konsulat in Istanbul werden die Auflagen immer strenger. Semsiye lässt sich nicht abschrecken.
"Wenn die türkische Regierung schon nicht für uns eintritt, dann soll sie uns wenigstens selbst für unsere Familien eintreten lassen und uns nicht behindern. Anfangs standen wir von morgens bis abends hier, aber jetzt lassen sie uns nur noch zwei, drei Stunden hier stehen. Wahrscheinlich wegen des Drucks aus China, das verstehen wir schon."
Semsiye will trotzdem hier stehen bleiben und das Foto ihrer Eltern hochhalten. Es ist das Einzige, was sie für die Eltern tun kann.