"Die Dokumente belegen, dass die 'wahre' Odessa weit mehr als eine abgeschottete Organisation von Nazi-Nostalgikern war", schreibt Uki Goñi im Vorwort von "Odessa: Die wahre Geschichte". Die Fäden des komplexen Netzes, das rund 280 Kriegsverbrechern und Kollaborateuren die Flucht nach Argentinien ermöglichte, hat der Journalist in jahrelanger Recherchearbeit entwirrt. NS-Schwerverbrecher und Massenmörder wie Adolf Eichmann, Josef Mengele, Erich Priebke oder Josef Schwammberger konnten in Südamerika ein neues Leben anfangen – geschuldet war dies einem gut geschmierten Zusammenspiel vieler verschiedener Akteure.
"Schlüsselrollen als Fluchthelfer spielten sowohl ehemalige SS-Mitglieder als auch die Schweiz, die als Durchreiseland fungierte, außerdem der Vatikan und schließlich Argentinien, das die Flüchtigen aufnahm", erläutert der Autor bei einem Gespräch in Buenos Aires.
Ein Tabu in Argentinien
Dass sich Uki Goñi, Jahrgang 1953, in den 90er-Jahren in das Dickicht bis dahin nicht aufgearbeiteter Archive mit brisantem Material begab, hatte auch etwas mit der eigenen Familiengeschichte zu tun. Goñis Großvater war ein argentinischer Diplomat, der ab 1938 eine geheime Anordnung der damaligen Regierung befolgte: Juden, die bis dahin ungehindert nach Argentinien emigrieren konnten, sollten keine Visa mehr bekommen. Der Einwanderung verfolgter Juden wurde ein Riegel vorgeschoben, aber einige Jahre später hieß das Land Hunderte von Nazis und anderen Kriminellen willkommen. In Argentinien war das lange Zeit ein Tabu-Thema.
"Schon seit langem empfand ich, dass das Schweigen in Argentinien von geradezu betäubender Präsenz war, und dass das Land auf klägliche Weise zum wiederholten Mal versäumt hatte, in das eigene Spiegelbild zu blicken."
Ohne Zweifel: Mit "Odessa: Die wahre Geschichte" hat Goñi seinem Land schonungslos einen Spiegel vorgehalten. Kein anderer hatte das vor ihm getan – wohl deshalb, weil der Hauptverantwortliche der nazifreundlichen Politik, der 1946 angetretene Präsident Juan Domingo Perón, von einem großen Teil der Argentinier bis heute verehrt wird. Der Peronismus ist eine einflussreiche politische Kraft geblieben. Was aber waren Peróns Beweggründe?
"Gegen Ende seines Lebens enthüllte Perón die Motive für seine Rettung der Nazi-Kriegsverbrecher in jenen ausufernden Memoiren, die er in langen Sitzungen auf einen Kassettenrecorder sprach. In diesen einsamen Erinnerungen vertraute der alternde General der Tonbandspule an, wie sehr die Nürnberger Prozesse gegen die führenden NS-Funktionäre ab 1945 seinen engen militärischen Ehrbegriff verletzt hatten und wie sein Entschluss gereift war, so viele wie möglich von ihnen vor der alliierten Justiz zu retten."
Gute Beziehungen zu Hitler-Deutschland
Deutlich wird in Uki Goñis Buch aber auch: Perón handelte nicht allein. In Argentinien gab es viele Funktionäre und Militärs, die dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstanden. Die guten Beziehungen zwischen dem südamerikanischen Land und dem NS-Staat hatten bereits in den 1930er-Jahren begonnen. Die Nazis etablierten mit argentinischer Unterstützung ein Spionagenetz, das in ganz Lateinamerika operierte. Erst im März 1945 erklärte das bis dahin neutrale Argentinien unter alliiertem Druck Deutschland den Krieg. Die große deutschstämmige Gemeinschaft sympathisierte mehrheitlich mit Hitler. Ihr entstammten zwei Männer, die entscheidende Rollen im Fluchthilfe-Netzwerk spielen sollten. Einer war Rodolfo Freude. Er leitete einen Nachrichtendienst Peróns. Der andere hieß Carlos Fuldner.
"Fuldner war in Deutschland SS-Hauptsturmführer und reiste gegen Ende des Krieges zwischen Berlin und Madrid hin und her, um die Nazi-Flucht vorzubereiten. Dann kam Fuldner nach Argentinien und traf Perón. Dessen Regierung schickte ihn zurück nach Europa, nun in offizieller argentinischer Mission."
Die Rolle von Kirche und Rotem Kreuz
In seinem Buch schildert Goñi ausführlich, wie und wo Carlos Fuldner agierte: Im franquistischen Spanien, das einer Reihe belgischer und französischer Kollaborateure Schutz gewährte – allerdings nur vorübergehend. In der Schweiz, Transitland für zahlreiche NS-Verbrecher, und im italienischen Genua. Von hier aus brachen viele von Fuldners Schützlingen mit dem Schiff nach Buenos Aires auf. Einige von ihnen waren Ingenieure und Techniker, die Perón unter anderem im Flugzeugbau einsetzte. Beteiligt an der riesigen Hilfsaktion waren auch das Rote Kreuz, das Nazis und Kollaborateuren Pässe ausstellte, und eine große Zahl katholischer Bischöfe und Priester, viele von ihnen erbitterte Anti-Kommunisten. Dazu Goñi:
"Vielleicht wird die zentrale Rolle der Kirche in einem Brief am deutlichsten, den Bischof Alois Hudal am 31. August 1948 an den Präsidenten Juan Perón schrieb und in dem der Bischof um 5.000 Visa für deutsche und österreichische 'Soldaten' bat. (…) Es handele sich bei ihnen nicht um Flüchtlinge, erklärte Hudal, sondern um antikommunistische Kämpfer, die mit den 'Opfern', die sie während des Krieges erbracht hätten, Europa vor sowjetischer Herrschaft bewahrt hätten. Mit anderen Worten: Es handelte sich um deutsche und österreichische Nazis."
Goñi hält die Frage, ob der damalige Papst Pius der Zwölfte über die Fluchthilfe-Aktivitäten von Kirchenvertretern Bescheid wusste, für naiv. Der Autor ist kein Historiker, aber er hat für sein Buch gewissenhaft recherchiert. Unzählige Quellen untermauern seine minutiöse Beschreibung der verschiedenen "Rattenlinien", darunter auch die sogenannte Nordroute und die Fluchtwege der kroatischen Ustascha-Faschisten. Uki Goñi hat rund 200 Zeitzeugen befragt und zahlreiche Archive akribisch durchforstet, insbesondere in Argentinien, Deutschland und den USA. In Washington hatte er Zugang zu aufschlussreichen Geheimdienst-Akten. Weitere entscheidende Teile des Puzzles fand der Autor in Belgien und der Schweiz.
"Ich habe in diesem Buch darauf hingewiesen, dass in Argentinien wichtige und kompromittierende Akten offenbar vernichtet wurden. Einem puren Zufall ist es zu verdanken, dass sich unter den Höflingen Peróns ein disziplinierter Tagebuchschreiber wie Pierre Daye befand. Die Tatsache, dass seine Aufzeichnungen nach seinem Tod in sein Heimatland Belgien geschickt und später einem öffentlichen Archiv geschenkt wurden, erwies sich als ein doppelt glücklicher Umstand. (Und) Die Besessenheit des Schweizer Polizeichefs Rothmund, über jedes Gespräch mit den argentinischen Fluchthelfern in Bern pedantische Notizen anzulegen, grenzt schon an göttliche Fügung."
"Odessa: Die wahre Geschichte" gilt zu Recht als eines der wichtigsten Bücher zum Thema Nazi-Flucht nach Argentinien. Einen Spiegel vorgehalten hat Goñi nicht nur seinem Heimatland, sondern auch den vielen Institutionen und deren Vertretern, die als Komplizen willige Dienste leisteten.
Uki Goñi "Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher"
Neuauflage
aus dem Englischen von Theo Bruns und Stefanie Graefe
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg. 400 Seiten, 22 Euro.
Neuauflage
aus dem Englischen von Theo Bruns und Stefanie Graefe
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg. 400 Seiten, 22 Euro.