Ein Siegeszug der UK Independence Party (UKIP) sei zwar zu bezweifeln, so der Politikwissenschaftler Anthony Glees. Der Verlust des Sitzes in Rochester sei aber sowohl schlimm für Premier David Cameron, der den Wahlkreis fünf Mal im Vorfeld der Nachwahl besuchte, als auch für den Chef der Labour-Partei, Ed Miliband. Vor wenigen Jahren noch war Rochester ein fester Labour-Sitz.
Cameron habe gedacht, er könne UKIP durch eigene Europaskepsis aus dem Ring werfen. Damit habe er jedoch Macht an Nigel Farage, den Vorsitzenden von UKIP, abgegeben.
Zudem sieht Glees einen grundlegenden Wandel, was die Haltung Großbritanniens gegenüber der EU betrifft. Die Ehe der Briten mit der EU sei vorbei. Die Briten verständen wenig von Europa und das was sie verständen, hassten sie mit einer wachsenden Tiefe.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Großbritanniens Konservative, die Tories von David Cameron, die geraten immer stärker unter Druck: unter Druck nämlich von der EU-feindlichen UK Independence Party. Die Partei fordert unter anderem einen Austritt aus der EU und sie erfreut sich damit wachsender Beliebtheit. Gestern hat sie bei einer Nachwahl im südenglischen Rochester einen zweiten Sitz im Parlament, im Unterhaus gewonnen. Im britischen Wahlsystem, das kleinen Parteien eigentlich kaum eine Chance gibt, ist das schon eine kleine Sensation.
Am Telefon ist jetzt Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der englischen Buckingham University. Schönen guten Tag, Herr Glees.
Anthony Glees: Guten Tag.
"Die Auflösung hat angefangen"
Armbrüster: Professor Glees, ist das jetzt der Anfang eines Siegeszuges von UKIP?
Glees: Ob es ein Siegeszug von UKIP ist, ist, glaube ich, zu bezweifeln. Aber es ist jetzt klar, dass der Protest in Großbritannien, der Wählerprotest jetzt eingebürgert im Parteiensystem ist. Und was wir beobachten, wenn nicht den Endsieg von UKIP, ist bestimmt die Auflösung des britischen Parteiensystems, und wo das enden wird, das kann wirklich kein Mensch vorhersagen.
Sehr schlimm für David Cameron, sehr ernst für ihn, aber auch sehr ernst für Ed Miliband. Wie Sie sagen: Dieser Sitz von Rochester war vor wenigen Jahren ein fester Labour-Sitz. Dass in dieser Zeit Miliband nicht durchschlagen konnte, wird für ihn zum Verhängnis, genau wie das zum Verhängnis von David Cameron wurde, dass, wie Sie sagten, er seine ganze Glaubwürdigkeit darauf gesetzt hat, dass UKIP diesen Sitz nicht gewinnen würde. Jetzt ist es anders ausgefallen und die Auflösung, der Auflösungsprozess hat angefangen.
Armbrüster: Sie nennen es einen Auflösungsprozess. Heißt das, dass sich die britischen Wähler oder die englischen Wähler jetzt so langsam daran gewöhnen, dass es neben den drei Parteien, die sonst im Parlament sitzen, möglicherweise auch noch andere Optionen gibt? Heißt das, dass wir uns daran gewöhnen können, dass Großbritannien ein ganz normales Mehr-Parteien-System wird?
Glees: Ich glaube, Großbritannien ist schon ein Mehr-Parteien-System, und das werden wir mehr sehen. Bloß das Problem ist, dass wir ein Wahlsystem haben, ein Wahlrecht, das ein Mehrheitswahlrecht ist und an und für sich zwei, vielleicht zweieinhalb Parteien erzeugen sollte. So ist es seit ganz langer Zeit, seit mehr als 100 Jahren ausgefallen. Und als wir vor drei Jahren die Möglichkeit hatten in Großbritannien, für ein anderes Verhältniswahlsystem zu wählen, haben alle gesagt, das wollen wir nicht, wir wollen das alte System beibehalten.
Und was das bedeutet ist, dass es radikaler wird in unserem politischen Leben, dass der Protest dasteht und dass das politische System in Großbritannien bestimmt sich ändern wird und vielleicht auseinanderfallen wird.
Die Schotten reden schon davon, dass sie jetzt ein neues Referendum haben würden, und was merkwürdig war, auch bei UKIP, obwohl sie sich UKIP nennen, also United Kingdom, Vereinigtes Königreich, haben sie mit England und englischen Fahnen in Rochester kandidiert. Ja: Das was UKIP anbietet, ist nur sehr grob dargestellt. Es ist eine Partei gegen Immigranten, aber welche Immigranten, ist nie so richtig gesagt. Sind es die Polen, die Leute aus Europa, sind es die Schwarzen aus Afrika oder aus Asien? Das wird nie so richtig gesagt. Auch so mit der Wirtschaft: Keine Klarheit, weil die Medien sehr UKIP-freundlich sind bei uns, aber Auflösung.
"Es ist mehr als eine kleine Sensation"
Armbrüster: Professor Glees, wie wird David Cameron jetzt mit dieser neuen Parteien - so neu ist sie ja gar nicht mehr, aber zumindest mit dieser Partei, die jetzt zwei Abgeordnete auf einmal im Unterhaus stellt -, wie wird David Cameron mit dieser Partei jetzt umgehen?
Glees: Es wird sehr schwierig für ihn und ich würde annehmen, dass man Stimmen hören wird, die versuchen werden, David Cameron los zu werden, dass er seine Stelle vielleicht abdanken muss. Denn seine Haltung gegenüber UKIP war völlig falsch, eigentlich vom ersten Augenblick. Er meinte, er könnte UKIP durch seine eigene, immer mehr werdende Euro-Skepsis aus dem Ring schmeißen. Aber je mehr er europafeindlich wurde, desto mehr Macht gab er an Nigel Farage weg. Er hat taktisch gedacht, nie strategisch gedacht, und jetzt wird das ihm bestimmt sehr viele Schwierigkeiten bereiten. Aber auch für Ed Miliband. Deswegen ist es mehr als eine Sensation.
"Das hätte ein Labour-Gewinn sein müssen"
Armbrüster: Also für die Labour Party. - Warum ist es auch für die Labour-Partei ein Problem? Ich meine, wir haben hier immer so den Eindruck, UKIP, die profitieren vor allem von den Konservativen.
Glees: Ja, und das war gar nicht wahr, und das haben wir gerade in Rochester gesehen. Das hätte ein Labour-Gewinn sein müssen, weil viele Labour-Stammwähler in Rochester waren. Und dass Labour nicht einen Sitz wie in Rochester gewinnen könnte bedeutet, dass in anderen festen Labour-Sitzen im Norden von England, wo es viele Immigranten gibt, viel Verdruss, viel Verdrossenheit, dass Ed Miliband vielleicht national mit 35 Prozent von Wählern rechnen kann. Aber in unserem Wahlsystem bedeutet das nichts, denn er muss 40, mehr als 40 Prozent bekommen, um der nächste Premierminister zu werden, und das hat er nicht, ist nicht da!
"Die Briten verstehen sehr wenig von Europa"
Armbrüster: Bedeutet dieser Wahlsieg von UKIP in Rochester, bedeutet der jetzt auch, dass sich tatsächlich möglicherweise eine Mehrheit der Briten anfreunden kann mit einem Austritt aus der EU?
Glees: Ich habe schon seit einiger Zeit gesagt, die Ehe der Briten mit der EU, wie die EU jetzt ist, ist aus, ist vorbei. Man hört von keinen oder nur sehr wenigen Stimmen, die die Plusseite in Europa sind. Margaret Thatcher war begeisterter Anhänger des europäischen Binnenmarktes, aber das hört man von keinem. Auch nicht die deutschen Firmen in Großbritannien. Sie halten alle den Mund, BMW, Siemens und so weiter und so weiter.
Also es ist Bahn frei für die, die alle die Schwierigkeiten benennen, die wir alle gehabt haben seit 2008, Bahn frei für das alles am Tor von der Europäischen Union darzulegen. Die Briten verstehen sehr wenig von Europa und das, was sie verstehen, hassen sie mit einer immer mehr werdenden Tiefe.
Armbrüster: Woher kommt denn dieser Hass?
Glees: Es kommt aus Unverständnis, es kommt aus Armut, es kommt aus großer Veränderung. Die Welt hat sich groß verändert, Großbritannien hat sich verändert. Die Auflösung des Parteiensystems ist in der Auflösung des ganzen Regierungssystems in Großbritannien dargestellt.
Dass wir eine Koalition haben zwischen Liberaldemokraten und Konservativen, dass wir eine feste Wahlzeit haben - zum ersten Mal wissen wir, dass im Juni im nächsten Jahr gewählt wird. Es ist alles ganz anders und ich glaube, die Landschaft, die tektonischen Platten in Großbritannien, die verändern sich. Und wie das ausfallen wird, da hat Nigel Farage ganz recht: Das weiß kein Mensch.
Dass wir eine Koalition haben zwischen Liberaldemokraten und Konservativen, dass wir eine feste Wahlzeit haben - zum ersten Mal wissen wir, dass im Juni im nächsten Jahr gewählt wird. Es ist alles ganz anders und ich glaube, die Landschaft, die tektonischen Platten in Großbritannien, die verändern sich. Und wie das ausfallen wird, da hat Nigel Farage ganz recht: Das weiß kein Mensch.
"Die Partei hat nichts getan, um mit der Gefahr fertig zu werden"
Armbrüster: Wie wahrscheinlich ist es denn, dass jetzt in den kommenden Wochen und Monaten weitere Konservative überlaufen zur UKIP?
Glees: Ich glaube, es ist gut möglich, denn es gibt kein Gesetz, dass sechs Monate vor der Gesamtwahl man nicht diese Zwischenwahlen haben könnte. Es ist gut möglich. Aber wissen Sie, für UKIP war die Strategie, die konservative Partei zu unterwandern. Das war der Grundplan. Es ist aber anders ausgefallen: Nicht, dass die Partei unterwandert wird, sondern dass UKIP die konservative Partei aus dem Weg schieben kann in vielen Sitzen. Dass UKIP nationaler sein kann als die Tories selber, das ist eine große Gefahr für eine Partei, die nichts getan hat. Das habe ich selber beobachten können. Die Partei hat nichts getan, um mit der Gefahr fertig zu werden.
Armbrüster: Spannende Zeiten also für die britischen Tories und die UKIP, die UK Independence Party, nach diesem Wahlsieg gestern im englischen Rochester bei einer Nachwahl zum Unterhaus. - Das war der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees. Vielen Dank, Herr Professor Glees, für dieses Gespräch.
Glees: Gerne geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.