Interviews mit Warlords, eine Nacht im Schutzkeller, reisen in schusssicherer Weste: Jutta Sommerbauer ist eine derjenigen, die genau wissen wollen, worüber sie schreiben. Ihre Reise in und durch die Separatistenregionen verfolgt man als Leser mit Beklemmungen und Neugier zugleich. Etwa wenn sie die Zerstörungen in der Stadt Donezk beschreibt und wie die Kinder dort mit dem ständigen Beschuss umgehen.
"'Wir leben an der Frontlinie', sagten Julia und die anderen Kinder, wenn man sie nach ihrem Wohnort fragte. (...) Im Juli 2014 war der Krieg zu Julia nach Hause gekommen. Er hatte die Bewohner aus ihren Wohnungen in den Keller vertrieben. (...) Julia hatte mir geschildert, wie die Wände wackelten, wenn Geschosse in der Nähe einschlugen. Wie sie dann hier bei Kerzenlicht saßen, ohne Aussicht, den Keller verlassen zu können. In solchen Momenten versuchten sich die Menschen mit Gesprächen abzulenken. Es klappte nicht immer."
Dokumentierend, sachlich bildet Jutta Sommerbauer die verschiedenen Situationen, Charaktere und Positionen ab, denen sie begegnet. Nie von oben herab, immer auf Augenhöhe und mit der nötigen Distanz. So auch ihr Treffen mit dem Vorsitzenden des Sicherheitsrats der DNR, der Donezker Volksrepublik, Alexander Chodakowskij.
"Er ist von Anfang an dabei, und nicht nur das, er hat eine steile Karriere hingelegt. (...) Er ist vom Gründer des Bataillons 'Wostok' zu einem führenden Politiker der DNR aufgestiegen, manche sagen gar: zur grauen Eminenz, zum Strippenzieher hinter den Kulissen. Wenn Alexander Chodakowskij von der heutigen Lage in der Ukraine spricht, dann ist aus seiner Sicht klar, wer die Schuld trägt: Es sind die Massendemonstrationen gegen den früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch, die einen ‚bewaffneten Umsturz‘ im Land provozierten. (...) Und doch ist der 42-Jährige eine Schlüsselfigur auf dem Weg in die Eskalation. Zur Zeit des Euromaidan war Chodakowskij mit anderen 'Alpha'-Einheiten in Kiew. Seine Aufgabe war es, die Staatsmacht gegen die Demonstranten zu verteidigen."
Situation in der Ostukraine verständlich erklärt
Jutta Sommerbauer setzt mit ihren Begegnungen, Nahaufnahmen und Rückblenden ein Puzzle zusammen, das die Ostukraine in ihrer jetzigen Situation sehr gut erklärt. Es gebe De-Facto-Behörden, schreibt sie, selbst organisiert und nicht von Kiew anerkannt. Die Menschen seien bemüht ihren Alltag und ihre Versorgung zu organisieren. Einen Teil der Rentenzahlungen steuere Moskau bei, und die Wirtschaftsbeziehungen zur Ukraine seien auch nicht ganz gekappt.
Daneben skizziert Jutta Sommerbauer die historischen Stationen der Ukraine, seit diese 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte - insbesondere natürlich die Orangene Revolution und den Euromaidan. Wie auch andere Publikationen zu der Region erläutert sie die besondere Geschichte des Donbass - um den eigenständigen Geist der Bewohner dieses Gebiets nachvollziehbar darzulegen.
"Das heißt, viele Menschen, viele einfache Menschen fühlen sich einfach als Donezker oder Luhansker oder als Donbass-Bewohner. Die Ukraine, Kiew ist weit weg. Umgekehrt heißt das nicht, dass dort jetzt alle glühende Russen sind oder alle Menschen prorussisch orientiert sind. Also, ich würde sagen, dass diese lokale Verortung überwiegt."
Die Journalistin erläutert die russische Politik in Bezug auf das "nahe Ausland", meint die ehemaligen Sowjetrepubliken, und Moskaus Interesse an den verschiedenen Separatistengebieten in diesen Ländern. Kleine Unruheherde wie etwa Abchasien, Südossetien oder Transnistrien, die man jederzeit anfachen könnte, um Einfluss auf das jeweilige Land zu nehmen.
Europas Verhältnis zu Russland in der Kritik
Auch den Informationskrieg lässt Sommerbauer nicht aus, wobei sie sowohl russische als auch ukrainische Beispiele für Desinformation und Unterdrückung der Meinungsfreiheit anführt. Ohnehin macht sie zwar deutlich, dass und an welchen Punkten sie Russland für den Krieg verantwortlich macht. Kiew nimmt sie dabei aber nicht aus der Pflicht, ebenso wenig Brüssel. Hier verlässt sie ihre Position als neutrale Reporterin, ist meinungsstark und analytisch. Der Konflikt in der Ukraine sei ein europäischer, führt Sommerbauer aus, und fordert, das Verhältnis Europas zu Russland zu überdenken.
"Die Ukraine-Krise hat die außenpolitischen Schwächen der EU offenbart. Europäische ‚Soft Power‘ ist wirkungslos, wenn der Konterpart auf einer anderen Klaviatur spielt. Diese Schwäche kann nur längerfristig ausgeglichen werden: durch eine wahrhaft gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und engagiertes Handeln in der europäischen Nachbarschaft statt nationalstaatlicher Alleingänge. (...) Wenn Europa Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat glaubwürdig verkörpern will, dann muss es jetzt Stellung beziehen: als Mahner für Putins Russland, und als Vorbild für die Ukraine."
"Leider ist der Ukraine-Konflikt jetzt nicht mehr so an erster Stelle. Wir sind mit anderen Krisen konfrontiert. Ich glaube aber, es ist sehr wichtig, diesen Krieg nicht aus den Augen zu verlieren und sich für eine Friedensordnung, für friedensbildende Maßnahmen sich weiterhin stark zu machen. Das betrifft einerseits das Verhältnis zu Russland. Da halte ich es für wichtig, dass europäische Politiker sich weiter einsetzen und auch die Verantwortung Moskaus klar darlegen. Stichwort Minsker Abkommen. Gleichzeitig natürlich die Ukraine selbst, die Regierung in Kiew im Auge zu behalten und sich stark machen, dass dort der Reformkurs wirklich weiter geführt wird."
Keine Annäherung an Kiew in Sicht
Eine Wiederannäherung der Separatistengebiete an Kiew erwartet Jutta Sommerbauer in absehbarer Zeit nicht. Der Waffenstillstand werde täglich gebrochen und die politischen Vereinbarungen seien nicht umgesetzt worden. Auch über die geplanten Lokalwahlen in den Separatistengebieten werde man sich trotz wochenlanger Verhandlungen nicht einig.
Jutta Sommerbauer: "Die Ukraine im Krieg"
Verlag: Kremayr & Scheriau, 208 Seiten, 22 Euro
Verlag: Kremayr & Scheriau, 208 Seiten, 22 Euro