In Zugres im Bezirk Donezk haben Separatisten Anfang dieser Woche wieder einmal einen Mann an einen Laternenpfahl gefesselt. Pranger oder Schandpfahl nennen sie diese mittelalterliche Praxis. So wollen sie die Bewohner des Donezk-Beckens bestrafen, die für einen Verbleib des Gebietes in der Ukraine sind. Der Mann, von dessen Qual es Fotos gibt, hat die blau-gelbe Flagge der Ukraine um den Hals gebunden. Passanten können ihn je nach Belieben beschimpfen, bespucken oder schlagen.
Andere müssen für ihre pro-ukrainischen Überzeugungen noch weit Schlimmeres erdulden, sagt Tetjana Mazur, Leiterin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International in der Ukraine.
"Da ist die Geschichte von Anna, einer jungen Frau aus dem Bezirk Donezk. Die Separatisten haben sie aus ihrer Wohnung entführt, in der sie Ukraine-Flaggen entdeckt hatten. Anna wurde in einem Keller gefangen gehalten, ihre Peiniger ritzten ihr die Haut mit Messern auf und drohten ihr mit dem Tod. Sie haben ihr befohlen, 'Ich liebe den Donbas' an die Mauer zu schreiben, mit ihrem eigenen Blut. Sie hat uns gesagt, sie sei froh gewesen, dass das Blut aus ihren Wunden dafür ausgereicht hat, sonst wäre sie noch schlimmer zugerichtet worden."
Der hier beschriebene Tatbestand fällt klar unter Paragraf 127 des ukrainischen Strafgesetzbuches. Ihm zufolge wird Folter mit mindestens drei Jahren Gefängnis bestraft. Doch die Peiniger von Anna könnten straffrei davonkommen - durch ein neues Amnestiegesetz, initiiert von Präsident Petro Poroschenko und vom Parlament bereits beschlossen. Sollte es im Donezk-Becken also zu einem endgültigen Friedensschluss kommen, würden die pro-russischen Kämpfer straffrei ausgehen. Das Gesetz sieht zwar einige Ausnahmen für schwere Straftaten vor, Folter gehört jedoch nicht dazu.
Für Tetjana Mazur ist das nicht hinnehmbar.
"Das widerspricht sämtlichen internationalen Standards in der Rechtsprechung. Wir fordern Präsident Poroschenko deshalb auf, das Gesetz erst dann zu unterschreiben, wenn auch Folter zu den Ausnahmen zählt, bei denen es keine Amnestie geben kann. Das ist sehr wichtig."
Amnestiegesetz ein Teil von der Vereinbarung von Minsk
Mit dem Amnestiegesetz will Kiew einen Teil der Vereinbarung von Minsk umsetzen. Die Ukraine und Russland hatten sich in der weißrussischen Hauptstadt auf eine Waffenruhe und einen Friedensplan geeinigt. Er sieht auch vor, dass die von Separatisten besetzten Gebieten für drei Jahre einen Sonderstatus erhalten sollen: Die lokalen Behörden dürften eine Volksmiliz gründen und bei der Ernennung von Staatsanwälten und Richtern mitentscheiden.
Ob das jemals so umgesetzt wird, ist noch unklar. Denn Voraussetzung ist, dass die Ukraine im Donezk-Becken Kommunalwahlen organisieren kann, sie sind für Anfang Dezember angesetzt. Die Separatisten wollen davon aber nichts wissen. Sie organisieren ihrerseits Anfang November eine Parlamentswahl - für den von ihnen ausgerufenen Staat "Neurussland".
Dabei würde das Amnestiegesetz nicht nur ihnen Vorteile verschaffen, sagt Tetjana Mazur.
"Wir stellen schwere Rechtsverstöße auch vonseiten ukrainischer Uniformierter fest. Das betrifft vor allem das Freiwilligen-Bataillon Ajdar im Bezirk Luhansk. In Gebieten, die von ukrainischen Kräften zurückeroberten wurden, haben sie Bauern und Geschäftsleute entführt, um sie zu erpressen. Sie schlagen ihre Gefangenen und praktizieren Scheinerschießungen - auch das ist Folter. Immer wieder fragen sie: Wie viel bist Du bereit, für Deine Freiheit zu zahlen?"
Vorwürfe aus Russland
Russland hat noch viel weiter gehende Vorwürfe gegen die ukrainischen Streitkräfte erhoben. Außenminister Sergej Lawrow erklärte, bei Donezk seien Massengräber gefunden worden, mit insgesamt über 400 Leichen. Zivilisten mit verbundenen Händen seien aus nächster Nähe erschossen worden - ein Kriegsverbrechen, so der Minister. Unabhängige Beobachter hätten dies jedoch nicht bestätigten können, so Tetjana Mazur.
"Unsere Ermittler sind gerade aus dem Osten zurückgekommen. Sie haben an dem besagten Ort bei Donezk drei Gemeinschaftsgräber gesehen - mit insgesamt acht Leichen. Wie die Menschen ums Leben kamen, müsste erst von Fachleuten ermittelt werden."
Sogar die Separatisten der selbst ernannten Volksrepublik Donezk haben Außenminister Lawrow widersprochen. Er sei falsch verstanden worden, sagte ihr Vize-Chef Andrej Purgin.
Falsche Horror-Meldungen wie die von Lawrow rücken die tatsächlich begangenen Verbrechen in den Hintergrund - wie die Folter der jungen Anna. Tetjana Mazur will nun darum kämpfen, dass die ukrainischen Behörden in diesem Fall zumindest die Ermittlungen aufnehmen.