Christoph Heinemann: Wir haben vor einer Stunde Jean Asselborn erreicht, den luxemburgischen Außenminister. Ihm war vergönnt, worum wir uns seit Tagen vergeblich bemühen: Er hat den Bundesaußenminister ans Telefon bekommen.
Jean Asselborn: Ja, ich habe gestern Abend ganz kurz mit Frank-Walter Steinmeier gesprochen, so gegen Mitternacht. Und er hat mir auch angedeutet, sowohl was die Opposition angeht, dass selbstverständlich hier nicht alles unter Kontrolle ist und dass man auch die Einschätzung haben kann, ich glaube, auch ohne in Kiew zu sein, dass auch vonseiten der Regierung, des Präsidenten es sehr schwierig ist anzunehmen, dass hier alles unter Kontrolle wäre. Die Gefahr besteht, dass die Ukraine in eine Anarchie abrutscht. Sie wissen auch, dass in der Ukraine, in sehr vielen Teilen der Ukraine, nicht nur im Westen, aber auch in anderen Teilen, dass hier lokale Aufständische, wenn ich so sagen darf, dass Aufstände wirklich Fuß gefasst haben. Und es ist schon eine sehr, sehr gefährliche Situation, die sich jetzt in der Ukraine präsentiert.
Heinemann: Herr Asselborn, Sie sprechen von der Gefahr der Anarchie. Besteht auch die Gefahr einer Spaltung der Ukraine?
Asselborn: Die Spaltung ist selbstverständlich - ich sage nicht, im Gespräch -, aber ist in den Köpfen von manchen Leuten. Sie wissen aus der Geschichte, wenn ein Land gespalten wird, dass das nie nie friedlich über die Bühne geht. Wenn Sie den Sudan nehmen, sehen Sie ein Exempel, wie schlecht eine solche Teilung eines Landes ablaufen kann. Wir haben das auf dem Balkan gesehen. Das muss verhindert werden, das wären fatale Folgen. Es ist natürlich auch die Gefahr neben Anarchie, dem Risiko einer Teilung, auch eines regulären Bürgerkrieges, der entstehen könnte. Die Lage ist sehr, sehr dramatisch. Und das wurde mir auch bestätigt gestern von meinem Freund Frank-Walter Steinmeier, der vor Ort ist.
Heinemann: Aus Polen wurde gestern gemeldet, Präsident Janukowitsch habe vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahlen zugestimmt. Hat Frank-Walter Steinmeier das bestätigen können?
Asselborn: Sagen wir mal, die Idee von unseren drei Kollegen in Kiew ist ja, dass es eventuell fertig gebracht wird, zwischen Janukowitsch und der Opposition ein Papier herzustellen, wo Dinge für die nächste Zukunft festgehalten werden. Sie kennen den Vorschlag der Europäischen Union. Das was sich in der Ukraine abspielt, hat auch etwas mit Demokratie zu tun oder mit Definition von Demokratie. Stopp der Gewalt ist ja der erste Punkt und dann eine Debatte über Verfassungsänderung, Übergangsregierung, Präsidentschaftswahlen, vorgezogene Parlamentswahlen, um eben eine bessere demokratische Basis zu schaffen. Ich glaube, jedenfalls habe ich es so gespürt in unserem Gespräch, dass es total verfrüht ist, jetzt zu sagen, dass er zugestimmt hat. Sie wissen auch, dass die Lage in Kiew jetzt extrem komplex ist. Alles was von der einen Seite gesagt wird, muss natürlich auch von der anderen Seite akzeptiert werden und umgedreht auch. Und das ist ein sehr, sehr schwieriges Unterfangen.
Heinemann: Aber bisher gibt es vonseiten der Regierung keine Bewegung?
Asselborn: Das würde ich nicht sagen. Es ist schon die Einsicht auch vonseiten der Regierung, vonseiten des Präsidenten, dass diese Situation ins Chaos führt. Ich glaube, dass es keiner Regierung zusteht, recht zu haben gegen das eigene Volk. Das ist der Fall so in Syrien, das ist auch der Fall in der Ukraine. Das Problem ist, dass die Einsicht auch des ukrainischen Präsidenten und, sagen wir mal, seines Umfeldes total zu spät kommt. Es wurde nie ein wahrer Dialog angeboten mit der Opposition und die Zeit ist auch davongelaufen. Ich bin überzeugt, dass ein Neustart der Ukraine selbstverständlich über Neuwahlen, was das Präsidentenamt angeht, laufen muss, aber vorher wäre es natürlich sinnvoll, dass man alles daran setzt, die Gewalt zu stoppen. Und dann in eine Phase einzutreten, wo Opposition und Regime oder Opposition und Regierungsleute sich vernünftig an einen Tisch setzen können und schauen, wie sie die Ukraine wieder auf die Schiene bringen.
Heinemann: Herr Asselborn, Gewalt stoppen: Halten Sie Sanktionen für ein geeignetes Druckmittel?
Asselborn: Dieses Problem ist etwas, wo wir in der Europäischen Union sehr sensibel sind. Und wir haben gestern die meiste Zeit, ich würde fast sagen, leider verbracht, wie deklinieren wir das Wort Sanktionen und auch wie legen wir uns an, wissend, dass wir drei Menschen, drei Kollegen, drei Außenminister, wenn ich so sagen darf, an der Front des Geschehens haben. Ich möchte hier ganz kurz einmal einflechten, dass das zeigt, dass Außenpolitik kein Plüschgeschäft ist, dass das sich nicht in einer Plüschatmosphäre abspielt. Es gehört sehr viel Mut und sehr viel Risiko dazu, an die Front eines Konfliktes zu gehen, sich einzubringen, was ja unsere drei Kollegen tun. Und egal was dabei herauskommt, es ist ein vorbildlicher Einsatz, der der Europäischen Union zugutekommt. Wir konnten, weil diese drei Kollegen in Kiew sind, natürlich nicht hier in Brüssel alle Türen zuschlagen. Wir haben eine Balance gefunden, was diese Sanktionen angeht. Wir können nicht daran vorbeischauen, dass in der Ukraine Autoritäten Gewalt anwenden oder Gewalt provozieren und dass diese auch selbstverständlich unter Sanktionen fallen. Wir haben dann entschieden, dass diese Persönlichkeiten – das könnten zurzeit zwischen sechs und zehn Personen sein -, dass die die Reisefreiheit eingeschränkt bekommen, dass die Geldkonten eingefroren werden. Das haben wir entschieden, dass das geschieht. Allerdings auf Deutsch: Die Implementation, die Einführung dieser Sanktionen wird entschieden in den nächsten Stunden, in den nächsten Tagen aufgrund der Lage oder der Evolution in der Ukraine.
Über Jean AsselbornGeboren 1949 in Steinfort, Luxemburg. Der luxemburgische Politiker engagierte sich nach der Schule als Angestellter in der Gewerkschaftsbewegung und beendete 1981 sein Jura-Studium an der Universität Nancy. 1989 wurde er Vorsitzender der Luxemburgischen Sozialisten (LSAP). Seit 2004 ist er Minister für Auswärtige Angelegenheiten seines Landes.
Heinemann: Entwickelt sich die Krise in der Ukraine zu einem geopolitischen Konflikt?
Asselborn: Wenn Sie geopolitisch ansprechen, meinen Sie natürlich Russland. Ich bin davon überzeugt, dass einerseits diese wirtschaftliche, die kulturelle, die geschichtliche Nähe der Ukraine zu Russland selbstverständlich eine Rolle spielt, und vor allem wirtschaftlich gesehen. Die Ukraine überlebt nicht wirtschaftlich ohne ganz enge Kontakte oder gute Kontakte mit Russland. Aber in dieser Ukraine gibt es das Verlangen von sehr, sehr vielen Ukrainern, sagen wir mal, auch die Werte der Europäischen Union und der Länder in der Europäischen Union anzustreben. Und dies reißt auseinander, sowohl nach innen wie auch nach außen. Allerdings Russland kann ja auch kein Interesse daran haben, dass auf Jahre hinaus die Ukraine destabilisiert ist. Ich glaube, wir müssten mit Russland wirklich, wenn ich so sagen darf, einen Deal finden, um eine gemeinsame Schiene fahren zu können. Russland und die Europäische Union – man muss es immer wiederholen – sind strategische Partner. Es müsste also möglich sein und es bedarf auch vielleicht noch mehr Einsatz von unserer Seite zu sagen, dass das, was wir als Assoziationsabkommen machen wollten mit der Ukraine, nicht gegen Russland gerichtet ist, sondern ganz klar in einem Kontext, in einem geopolitischen Kontext steht, wie Sie richtig gesagt haben, der Stabilität und Wohlstand für die Ukraine auch beinhaltet, und nicht das Gegenteil.
Heinemann: Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.