Jasper Barenberg: Gibt es nun einen Kompromiss im Machtkampf zwischen Regierung und Opposition in Kiew oder nicht? Das Amt von Präsident Janukowitsch hatte am frühen Morgen eine Vereinbarung verkündet. Doch weder die Opposition, noch die Delegationen der drei europäischen Außenminister vor Ort mochten das zunächst so bestätigen. Warnungen ergingen vielmehr vor allzu großem Optimismus. Am Telefon begrüße ich Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss im Europaparlament. Schönen guten Tag, Herr Schulz.
Werner Schulz: Schönen guten Tag. Hallo!
Barenberg: Wie groß ist Ihre Zuversicht? Oder anders gefragt: Welchen Reim machen Sie sich aus den Informationen, die wir in diesen Stunden aus Kiew bekommen, was eine Einigung angeht?
Schulz: Ich bin da sehr skeptisch, ob diese vorläufige Einigung - es ist ja wohl eine vorläufige Vereinbarung, die da abgeschlossen worden ist -, ob die trägt und ob die befriedigt. Es kommt ja weniger darauf an, dass es ein Kompromiss für die drei europäischen Außenminister und für die Führer der Opposition ist, sondern dass die Demonstranten, die Protestierenden auf dem Maidan das akzeptieren, und das glaube ich wiederum nicht. Ich glaube nicht, dass man sich dort drei Monate lang in der Kälte aufgehalten hat und protestiert hat, um dann eine vorgezogene Präsidentschaftswahl um drei Monate herauszuholen. Normalerweise wäre die Präsidentschaftswahl ja im März 2015. Die jetzt im Dezember 2014 zu veranstalten, kann ich mir nicht vorstellen, dass das die Leute befriedigt. Noch dazu: Man traut diesem Präsidenten nicht mehr. Er ist mittlerweile vom Kleinganoven zum Verbrecher geworden. Und die Forderung heißt Rücktritt, sofort Präsidentschaftswahlen, sobald das jedenfalls möglich ist, und insofern kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass das ein tragbarer Kompromiss ist, der da ausverhandelt worden ist.
"Russland hat keinen konstruktiven Part gespielt"
Barenberg: Wie können Sie sich denn erklären, dass es einen Schritt in diese Richtung gibt, so wenig belastbar diese Einigung möglicherweise sein wird? Janukowitsch hat auf Zeit gespielt bisher, Sie haben das alles beschrieben. Warum sollte er jetzt einlenken, auch nur ein Stück weit?
Schulz: Das wäre im Dezember, glaube ich, noch eine tragbare Lösung gewesen. Da gab es ja immer Versuche, einen Runden Tisch einzurichten und derartige Dinge auszuhandeln: Wiedereinsetzung der Verfassung von 2004, vorgezogene Präsidentschaftswahlen und dergleichen. Da wäre das sicherlich möglich gewesen. Aber jetzt haben wir praktisch einen Volksaufstand erlebt. Das ist ja kein Bürgerkrieg, sondern das ist ein Volksaufstand. Hier begehrt eine Zivilgesellschaft gegen eine postsowjetisch kleptokratische Autokratie auf, und insofern: man vertraut diesem Janukowitsch nicht mehr. Und er wird auch von Russland aus nach wie vor unterstützt. Es ist ja auch nicht so, wie Frank-Walter Steinmeier da gesagt hat, dass Russland einen konstruktiven Part da spielt. Es tut mir leid, dem muss ich deutlich widersprechen. Wen hat Putin geschickt? Wladimir Lukin. Das ist der Menschenrechtsbeauftragte, der es demnächst nicht mehr sein wird. Der hat in Russland nie etwas zu sagen gehabt. Das ist zwar ein ehrenvoller Mann, aber wie gesagt: er konnte in Russland immer nur die Menschenrechtsverletzungen registrieren, konnte nie was dagegen tun. Also das ist kein Vertreter Russlands, der dort den konstruktiven Part gespielt hat.
"Sie fürchten die kommende Diktatur"
Barenberg: Worauf kommt es jetzt an?
Schulz: Ich glaube, es kommt darauf an, dass es wirklich zur Beruhigung der Protestierenden kommt, und da muss schon mehr passieren. Da muss wirklich sich daran gehalten werden, dass die Einsatzkräfte keine Schusswaffen mehr gebrauchen dürfen. Das ist ja alles nach wie vor nicht garantiert. Mir liegen auch Meldungen vor, dass sichergestellte russische Erkennungsmarken aufgetaucht sind von Einsatzkräften. Es gab ja lange Zeit die Vermutung, dass die Scharfschützen möglicherweise Einsatzkräfte aus Russland sind. Hier sind schwerwiegende Vorwürfe im Raum und ich glaube, nach über 70 Toten sind die Leute jetzt nicht mehr so einfach zu befrieden. Ich höre von vielen Vertretern, gerade jungen Leuten auf dem Maidan, sie fürchten nicht diese Auseinandersetzung, sie fürchten den Polizeistaat, sie fürchten die kommende Diktatur und sie sind mit aller Kraft bereit, sich dagegenzustemmen. Das heißt, noch ist die Ukraine ja nicht gestorben, wie das in der Nationalhymne immer wieder gesungen und betont wird.
Barenberg: Herr Schulz, Sie haben auch beschrieben diese wachsende Kluft zwischen den Aktivisten auf der Straße und denjenigen, die in ihrem Namen mit dem Präsidenten verhandeln. Wie groß ist die Sorge, die Sie sich angesichts dieser wachsenden Kluft machen, denn wer kann dann überhaupt noch diese Übereinkunft, die Sie für notwendig halten, erreichen?
Schulz: Man wird das sehen, inwieweit das auf dem Maidan akzeptiert wird, dieses Ergebnis, wenn die Oppositionsführer das zurückbringen. Ich befürchte, dass man das nicht akzeptiert. Die sind schon mal ausgepfiffen worden mit so einer halblauen Lösung und es wird wahrscheinlich wieder so sein. Ich kann mir nur vorstellen, wie gesagt, wenn es eine greifbare Entmachtung dieses Präsidenten gibt. Er hat die Legitimation wirklich verloren in der Ukraine. Dann wird sich möglicherweise der Maidan auflösen lassen, obwohl das schwierig genug ist, weil die extremen Kräfte sicherlich nicht so ohne Weiteres zu bremsen sind.
Barenberg: Der grüne Europaparlamentarier Werner Schulz heute Mittag hier live im Deutschlandfunk. Herr Schulz, danke für das Gespräch.
Schulz: Bitte schön.
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