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Ukraine
"Eigentlich unverantwortlich"

Der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt eine Beitrittsperspektive für die Europäische Union zu geben, sei falsch, sagte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Hannes Swoboda, im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Erst müsse eine gewählte Regierung abgewartet werden.

Hannes Swoboda im Gespräch mit Annette Riedel |
    Porträt des Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Hannes Swoboda
    Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Hannes Swoboda (picture alliance / dpa)
    Annette Riedel: Herr Swoboda, führt uns die Situation in der Ukraine an den Rand eines neuen Kalten Krieges oder sind wir gar schon mittendrin?
    Hannes Swoboda: Er ist noch vermeidbar. Wenn alle Seiten Vernunft an den Tag legen, ist der Kalte Krieg noch vermeidbar. Wichtig zuerst einmal ist, dass es keinen heißen Krieg gibt, dass nicht die Waffen sprechen. Und dann muss man schauen, wie man aus dem Kalten Krieg heraus kommt oder ihn vermeidet.
    Riedel: Aber eine echte Kriegsgefahr ist auch nicht völlig auszuschließen. Und da in dem Zusammenhang die Frage: Ist es gut, dass die Ukraine noch nicht in der NATO ist oder ist es schlecht, dass die Ukraine noch nicht in der NATO ist? Dann hätte sich vielleicht Russland abgeschreckt gefühlt?
    Swoboda: Das ist jetzt schwer zu beantworten. Es könnte natürlich sein, wenn die Ukraine in der NATO wäre, dass es dann wirklich einen Konfliktfall und eine Verteidigungspflicht der NATO gäbe. Es könnte auch sein, dass Russland noch nicht so weit gegangen wäre. Das ist halt schwer zu beurteilen. Faktum ist, die Ukraine ist nicht in der NATO. Faktum ist, wir müssen versuchen, mit Russland eine Lösung zu finden. Und es ist auch wichtig, dass wir jetzt nicht als Schlafwandler agieren. Ich nehme hier das Buch zur Hand von Christopher Clarke, über den Beginn des Ersten Weltkrieges - also genau vor 100 Jahren -, wo einfach Schlafwandler da waren, die vielleicht alle nicht den Krieg wollten, aber letztendlich doch den Krieg herbeigeredet oder herbeigeschaffen haben. Es ist jetzt wichtig, kühlen Kopf zu bewahren und an die längerfristige Zukunft zu denken und nicht nur ans Morgen oder Übermorgen.
    Riedel: Ist es denn in dem Zusammenhang hilfreich, dass die NATO demonstrativ angekündigt hat, die militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine zu erhöhen, dass sie mehr Präsenz zeigt - sie hat jetzt sechs Kampfjets ins Baltikum geschickt - und auch die Zusammenarbeit mit anderen Nato-Ländern in der Region verstärken will?
    Swoboda: Momentan geht es ja um den Schutz, auch den psychologischen Schutz von Polen und den baltischen Ländern. Die sind natürlich froh, dass sie in der NATO sind und die wollen jetzt auch ein klares Zeichen der Solidarität haben. Ich glaube nicht, dass Putin da große Expansionsgelüste hat. Was er will ist, dass er eine quasi Perlenkette von Regionen hat, die ihm zugetan sind, die vielleicht auch als Destabilisatoren wirken können, als Störfaktoren - wenn ich an Südossetien, an Abchasien denke - zwei Abspaltungen von Georgien -, wenn ich an Transnistrien denke - eine Absplitterung von Moldawien - und jetzt an die Krim. So eine Perlenkette von Manövriermasse für Herrn Putin, das ist sicher drinnen, aber ich glaube nicht, dass er jetzt Länder, Mitgliedsländer der Europäischen Union oder gar der NATO schlucken möchte. Daher ist auch der Vergleich mit der Sowjetunion nicht ganz richtig - aber es ist ein gewisser russischer Imperialismus vorhanden.
    Auch einige EU-Staaten machen gute Geschäfte mit Russland
    Riedel: Und die östlichen EU-Mitgliedsländer, die früher zum Warschauer Pakt gehört haben, sehen das in der Tat ja ein bisschen anders und warnen davor, dass es auch da zum Teil erhebliche russische Minderheiten gibt und dass es dann eine ähnliche Entwicklung geben könnte?
    Swoboda: Einige sehen das anders. Bulgarien und aber vor allem Ungarn sehen das wieder anders. Die machen gute Geschäfte mit Putin, insbesondere auch, was die Kernenergie betrifft. Da muss man schon sagen, dass zum Beispiel auch die sogenannte Nabucco Pipeline, die Gas beziehungsweise Öl aus anderen Ländern als Russland, also aus Zentralasien und aus dem Südkaukasus, bringen sollte, von solchen Ländern kaputt gemacht worden ist und sie lieber auf South Stream setzen, also eine Pipeline, die erst wieder russische Energie nach Europa liefern sollte. In den nordischen Ländern, insbesondere wo es russischsprachige Minderheiten gibt, gib es Probleme, aber ich muss auch gleich dazu sagen, ein Teil dieser Länder - wenn ich zum Beispiel an Lettland denke -, die unternehmen nicht genug, um auch die russischsprachige Bevölkerung zu integrieren. Die fühlen sich einfach zurückgesetzt, die fühlen sich diskriminiert und schauen dann umso mehr nach Moskau. Also es geht schon auch darum, dass diese Regierungen und auch die ukrainische Regierung die Hand ausstreckt. Alle Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sollten sich zuhause und wohlfühlen im Lande, genauso wie das in Lettland der Fall sein sollte - aber es ist nicht immer der Fall.

    Viele Menschen sind zu einer Kundgebung gekommen.
    Vikele Menschen forderten auf dem Maidan auch die Einschränkung der Macht der Oligarchen. (AFP PHOTO/BULENT KILIC)
    Riedel: Wenn es, Herr Swoboda, jetzt ja erst mal kurzfristig um Entschärfung der Lage gehen muss, haben Ihrer Ansicht nach die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Sondergipfel in dieser Woche wegen der Entwicklung in der Ukraine die richtigen Signale ausgesandt, und zwar sowohl in Richtung Kiew als auch in Richtung Moskau?
    Swoboda: Da bin ich mir nicht ganz sicher, was die Richtung Kiew betrifft.
    Riedel: Na zum Beispiel, dass man sie unterstützen will mit einem Elf-Milliarden-Hilfspaket…
    Swoboda: Natürlich, ja.
    Riedel: … dass man ihnen ankündigt, dieses Assoziierungsabkommen, um das ja alles ging, noch vor den Wahlen Ende Mai, zu unterzeichnen - das sind ja Signale.
    Swoboda: Also ich bin da persönlich nicht begeistert davon. Warum? Erstens einmal, die elf Milliarden, da müsste man fragen, ob sie real sind. Wenn wir im Europäischen Parlament für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit nur um 100 Millionen oder um eine Milliarde mehr wollen, sagt man: Es gibt kein Geld, wir haben das nicht. Jetzt hat man plötzlich elf Milliarden - ich weiß nicht, woher die sind und ob die auch realistisch sind. Was das Abkommen betrifft, habe ich auch meine Zweifel. Ich möchte zuerst eine frei gewählte Regierung haben, einen frei gewählten Präsidenten haben, der klar macht, in welche Richtung das Land gehen soll. Der klar macht - ich rede jetzt von einem Präsidenten oder eine „Sie“ - auf jeden Fall: Die Regierung und die Spitze des Landes müssen klar machen, dass der Kampf gegen die Korruption wichtig ist. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum auch diese Übergangsregierung erst wieder Oligarchen eingesetzt hat als Gouverneure – das alles hat mit Demokratie wenig zu tun. Und da habe ich meine Zweifel, was die gegenwärtige Regierung betrifft. Da sollten wir nicht zu vorschnell ihnen eine Unterstützung gewähren, ohne die entsprechenden Bedingungen.
    Die Bevölkerung will die Oligarchen loswerden
    Riedel: Andererseits, wenn wir auf den Bedingungen bestehen, dann sind das immer Dinge oder oft Dinge, die sich nicht kurzfristig umsetzen lassen, was Reformen angeht, was auch das langsame Ausschließen der von Ihnen benannten Oligarchen angeht - aber die Bevölkerung, das Land braucht die Hilfe jetzt!
    Swoboda: Ja, aber das Land will auch die Oligarchen loswerden. Das war ja genau am Maidan der Ruf der überwiegenden Anzahl der Menschen, dass sie Änderungen haben wollten. Und das, glaube ich, muss gewährleistet sein. Übergangshilfe, kurze Übergangshilfe, natürlich, müssen wir leisten, ohne dass wir jetzt groß Bedingungen stellen können, selbstverständlich. Aber was die langfristige Hilfe betrifft, was nun den Zeitpunkt des Abkommens betrifft, da meine ich doch, dass wir eine gewählte Regierung abwarten sollten, mit der wir dann auch klare Richtlinien und klare Ziele ausarbeiten können. Dabei meine ich nicht diese Ziele, die der IWF vorgibt, zum Beispiel, die Kürzung der Subventionen der Gaspreise. Das würde die Leute sogar noch weiter in die Arme der Russen oder der Janukowitsch-Leute treiben. Also, es geht hier nicht um die liberalen Reformen, sogenannte Reformen, die jetzt da von heute auf morgen durchgesetzt werden müssen, aber ein klares Bekenntnis zum Rechtsstaat, eine Bekämpfung der Oligarchen, beziehungsweise der Korruption und ein neues, wirklich progressives Gesetz, was die Sprachen und vor allem die Minderheitensprachen betrifft - das betrifft das Russische und auch das Ungarische -, also auch hier muss die Regierung eine europäische Flagge zeigen. Nicht nur Worte sind gefragt, sondern europäische Gesinnung und Haltung.
    Riedel: Taten jedenfalls haben die EU-Staats- und Regierungschefs auch beschlossen, so eine Art Drei-Stufen-Sanktionsregime. Einiges soll sofort greifen, anderes, wenn Russland sich nicht umgehend auf Gespräche mit auch greifbaren Ergebnissen einlässt oder gar, wenn es weiter eskaliert, dann würde die dritte Stufe zünden. Finden Sie diese Sanktionen in ihre Staffelung sinnvoll?
    Swoboda: Das weiß man immer erst im Nachhinein, weil die Sanktionen werden wahrscheinlich von Russland mit Gegensanktionen beantwortet werden. Es ist ja ein Unterschied, ob ich dem Iran gegenüber Sanktionen verhänge oder Russland, mit den engen Wirtschaftsbeziehungen, vor allem auch, was die Energiefragen betrifft. Ich habe meine Zweifel, dass Sanktionen viel helfen. Man wird vielleicht nicht darum herumkommen, gewisse symbolische Sanktionen zu verhängen, aber man muss da sehr vorsichtig sein. Ich möchte schon daran erinnern, dem Kosovo hat man durch Bomben auf Serbien geholfen sich abzutrennen von Serbien. Jetzt sagt man "Unter keinen Umständen", und: "Jeder, der der Krim hilft, wird da mit Sanktionen belegt". Es kommt schon eine gewisse Doppeldeutigkeit zum Ausdruck. Die Integrität des Landes sollte natürlich gewahrt werden, selbstverständlich, und Russland hat sich auch verpflichtet dazu, und es ist eine grobe Verletzung, nicht nur der Verpflichtung, sondern auch des Völkerrechts. Aber es ist immer eine Frage, wie man da reagiert und wie man auch wirklich zu einem Ziel kommt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man einfach reagieren möchte, ohne dass man sich überlegt, was die Konsequenzen sind.
    Fracking muss umweltverträglich sein
    Riedel: Diese dritte Sanktionsstufe - wenn es denn zu ihr käme - würde eben auch Wirtschaftssanktionen beinhalten, ohne dass man da spezifischer geworden ist. Gas und Öl wären natürlich der greifbarste Weg, den Russen zu schaden, aber auch den EU-Ländern selbst. Da gibt es eine starke gegenseitige Abhängigkeit voneinander. Die einen wollen und müssen exportieren - so kriegen sie ihre Devisen - die anderen wollen und müssen importieren, weil sie sind zum Teil abhängig von Gas- und Stromlieferungen aus Russland. Ist nicht die Konsequenz daraus, Herr Swoboda, dass man die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen, Gaslieferungen verringern muss? Muss nicht auch Europa auf etwas wie Fracking setzen, eine Methode, die die Gasausbeute deutlich erhöhen könnte und die zum Beispiel in den USA dazu führen wird, dass sie irgendwann Gas exportieren können, statt es einführen zu müssen?
    Swoboda: Nun, was wir gemacht haben in den letzten Jahren - ich habe es schon erwähnt -, ist ja die Energieabhängigkeit zum Teil zu erhöhen.

    Schiefergas-Bohrung des polnischen Öl-und Gaskonzerns PGNiG in Lubycza Krolewska in Polen
    Fracking ist als Methode der Öl- und Gasförderung wegen der möglichen Umweltschäden umstritten. (picture alliance / dpa / Pawel Pawlowski)
    Riedel: Eben, aber müsste nicht die Lehre daraus sein, dass wir das jetzt verändern?
    Swoboda: Absolut, absolut, absolut, absolut.
    Riedel: Inklusive Fracking?
    Swoboda: Ich komme gleich zum Fracking. Absolut. Man müsste auch dann Bulgarien, aber vor allem Ungarn, dem Herrn Orban, sagen, dass er nicht da seine Kernenergiegeschäfte mit Russland machen sollte, die er gerade vor wenigen Wochen erst vereinbart hat. Und da schaut der Westen kühl zu, und das nenne ich eine Doppeldeutigkeit oder Doppelbödigkeit, dass man dann Russland sozusagen auf die Füße steigen möchte, aber den Ländern, die Geschäfte machen mit Russland - und zwar zusätzliche Geschäft, die Abhängigkeit da erhöhen -, also nicht auf die Füße steigt. Was das Fracking betrifft: Erstens mal, Amerika verhindert ja zum Beispiel Exporte bisher noch…
    Riedel: Will es aber verändern.
    Swoboda: … vom Gas nach Europa. Werden wir sehen, ob sie es verändern werden. Und das Zweite ist: Ich habe nichts gegen Fracking, wenn es wirklich so gemacht wird, dass es die Umwelt nicht schädigt. Bisher gibt es aber keine Methode, die ungefährlich für die Umwelt und für das Grundwasser ist.
    Riedel: Sie hören das Interview der Woche des Deutschlandfunks mit Hannes Swoboda, Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament.
    Sie haben eben schon gesagt, Herr Swoboda, dass Sie mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens eher vorsichtig wären, gerne erst die Neuwahlen in der Ukraine abwarten würde. Wie sieht es denn aus mit der Beitrittsperspektive für das Land? Die EVP, also die Konservativen im Europaparlament, haben sich am Freitag in Dublin dafür ausgesprochen, der Ukraine diese Perspektive zu geben. Bundeskanzlerin Merkel ist eher skeptisch an dem Eck. Wie sehen Sie es?
    Swoboda: Da bin ich auf der Seite von Frau Merkel, wo ich oft nicht zu finden bin. Ich kann mich noch gut erinnern, als die 'Orangene Revolution' stattgefunden hat und die EVP jubelnd in den Plenarsaal kamen. Was ist passiert? Genau dieselben Leute von Timoschenko, die jetzt wieder in Dublin beim Kongress der EVP bejubelt worden ist, haben mitgeholfen, das Ganze in Verruf zu bringen und zu zerstören, was an Hoffnungen mit der 'Orangenen Revolution‘ verbunden war. Dass die Ukraine als ein europäisches Land gemäß den entsprechenden Artikeln des Vertrages der Europäischen Union das Recht hat, irgendwann auch einmal einen Antrag stellen zu dürfen, Mitglied der Europäischen Union zu werden - das ist ja außer Streit. Aber jetzt damit zu winken, in einem Zeitraum, wo das weit entfernt liegt, realisiert zu werden, das halte ich eigentlich für unverantwortlich.
    Die Ukraine muss die Korruption bekämpfen
    Riedel: Na gut, aber Perspektiven sind in der Regel Dinge, die weiter in der Ferne liegen und trotzdem sollte man sie haben.
    Swoboda: Ja, die Perspektive gibt es ja ohnedies. Aber ich muss ja nicht die Perspektive, gerade jetzt in dieser schwierigen Situation, da so wie eine Karotte vor die Augen oder vor die Mündern der Leute zu halten, ohne dass ich was dafür tun kann. Das liegt ja vor allem nicht an der Europäischen Union, es liegt ja an der Ukraine, die Voraussetzungen zu schaffen. Die Ukraine muss die Korruption bekämpfen. Die Ukraine muss die Wirtschaft modernisieren. Es ist immer so, als ob Europa Schuld wäre, wenn die Ukraine in einer Krise ist. Natürlich, die Perspektive, wir haben das ja hundertmal schon festgelegt in verschiedenen Beschlüssen. Wenn wir unseren Leuten sagen: Für euch haben wir kein Geld, aber die Ukraine kommt da in ein paar Jahren als Mitglied zur Europäischen Union, dann ist das weder ehrlich noch vernünftig, noch realistisch.
    Riedel: Lassen Sie uns noch einen Moment darüber reden, wie man mit Russland umgeht. Aus den Reihen der Europaabgeordneten kam ja unter anderem die Forderung, dass man für eine gewisse Zeit die Beziehungen des EU-Parlaments mit der Duma, also dem russischen Parlament, aussetzen sollte. Was halten Sie davon?
    Swoboda: Da halte ich nichts davon - nicht, dass die Beziehungen zur Duma irgendwie etwas besonders ändern würden. Wir haben dort Gesprächspartner, die in Wirklichkeit ja kaum eine eigene Kompetenz haben. Also insofern macht es auch wenig Sinn, weil das die Leute dort nicht stören wird. Ich glaube, man sollte den Dialog aufrechterhalten. Er ist schwierig – er ist nicht leicht. Wir sollen jene unterstützen, die tagtäglich in Russland drangsaliert werden, das muss man dazu sagen, das ist das Entscheidende. Es geht nicht um negative Maßnahmen, sondern um positive. Da muss eigentlich der Dialog eher aufrecht erhalten werden, mit den wenigen, mit denen man noch reden kann in Russland.
    Riedel: Reden wir noch einen Augenblick, Herr Swoboda, auf die Fehleranalyse und zwar nicht, weil man hinterher immer so erquicklich viel schlauer ist – hinterher eben –, sondern weil man ja aus Fehlern tunlichst lernen sollte. Sind wir im Umgang mit Russland nicht kooperativ genug gewesen oder nicht konfrontativ genug?
    Swoboda: Ich glaube, der Herr Putin macht seine Strategie oder verfolgt seine Strategie, was immer wir machen. Wahrscheinlich sind wir in manchen Fällen nicht kooperativ und in anderen wieder nicht genug konfrontativ.
    Riedel: Was, wann, wo? Also wo nicht kooperativ genug und wo nicht konfrontativ genug?

    Duma in Moskau
    Die Beziehungen zur Duma bleiben wichtig. (Aleshkovsky Mitya)
    Swoboda: Ich glaube, was die Frage Wirtschaft, insbesondere was Visumserleichterungen betrifft, da müssen wir mehr und schneller etwas tun. Daher halte ich auch das Einfrieren zwar für kurzfristig vielleicht notwendig, aber längerfristig für problematisch. Es geht nicht um den Herrn Putin, es geht nicht um irgendwelche Oligarchen - die sind sowieso gekommen -, sondern es geht um die breite Schicht des Bürgertums, das langsam im Entstehen ist und das eigentlich nach Europa kommen soll und merken soll, dass wir nicht das sind, was Herr Putin sagt, einfach eine Gesellschaft, die gleichgeschlechtliche Ehe favorisiert und von Schwulen. Das ist eine Riesen-Propagandawelle gegenüber dem Westen, die wird von Putin und der orthodoxen Kirche et cetera verbreitet. Und daher ist es umso notwendiger - da wir ja keinen Einfluss haben auf die Fernsehsendungen in Moskau und in Russland generell -, dass diese Menschen nach Europa kommen können, dass sie hier sehen, dass wir nicht eine Schwulengemeinschaft sind, sondern eine ganz normale, freiheitliche Gesellschaft, die die Demokratie an oberster Stelle stellt. Ich würde weder sagen, dass das jetzt weder konfrontativ noch kooperativ ist, sondern wir sollten eine offensive Strategie haben, die sich an die russische Gesellschaft wendet, jedenfalls jene Gruppe, die offen ist für Argumente und die die Realität sehen wollen und nicht nur die Propaganda von Herrn Putin.
    Gebraucht wird eine gesamteuropäische Sicherheitsstrategie
    Riedel: Noch mal zurück konkret zur Ukraine. Am Anfang, als die EU begann über diese östlichen Partnerschaften nachzudenken, gab es ein entsprechendes Angebot auch an Russland. Russland hat abgewinkt und man hat sie abwinken lassen. Man hat also nicht versucht, sie stärker in diese Entwicklungen mit diversen osteuropäischen Ländern außerhalb der EU einzubinden. War das ein Fehler?
    Swoboda: Vielleicht war es ein Fehler. Aber, dass wir grundsätzlich - jetzt zumindest - überlegen müssen, wie machen wir eine gesamteuropäische Sicherheitsstrategie, wie können wir auch Länder oder Regime, die wir nicht wollen, aber doch so einbinden, dass sie nicht Störfaktoren sind, wie können wir ihnen Sicherheit geben, dass wir nicht die NATO bis an die Grenzen heranführen, da müsste man schon ein bisschen mehr eine Vision entwickeln und eine langfristige Strategie, die einfach nicht nur darin bestehen kann, ein Land nach dem anderen an die EU heranzuführen. Das sollte durchaus natürlich möglich sein, vor allem sollte den Ländern selbst das Recht gegeben werden und nicht genommen werden zu entscheiden, welchen Weg sie gehen wollen. Aber Russland ist ein Faktor und die russische Bevölkerung - trotz Wahlfälschungen - hat wahrscheinlich auch das letzte Mal wieder Putin gewählt. Und daher muss man auf Putin Rücksicht nehmen, weil er der Vertreter der russischen Mehrheit zumindest ist, auch wenn wir das gar nicht gerne sehen.
    Riedel: Sie hören das Interview der Woche vom Deutschlandfunk, heute mit Hannes Swoboda, dem Vorsitzenden der Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament.
    Lassen Sie uns, Herr Swoboda, noch über ein anderes Thema reden. Am Freitag haben nun auch die europäischen Volksparteien einen gemeinsamen Spitzenkandidaten für die Wahlen zum EU-Parlament im Mai aufgestellt. Was bei Ihnen der amtierende EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ist, ist bei der EVP der ehemalige Eurogruppenchef und ehemalige luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker. Die EVP und Ihre S&D sind die beiden größten Fraktionen im EU-Parlament, werden also am meisten mitzureden haben, wenn es im Herbst um eine Nachfolge für EU-Kommissionspräsident Barroso gehen wird. Die - ich sage es mal ein bisschen despektierlich -‚ 'Elefanten' Schulz und Juncker, diese beiden garantieren doch zumindest mal einen anregenden Wahlkampf?
    Swoboda: Das ist richtig. Es sind beides Persönlichkeiten, die pro-europäisch denken. Ich persönlich glaube, dass Martin Schulz ein bisschen mehr Ideen entwickelt, was sich ändern soll in Europa - Herr Juncker vertritt mehr das Europa, so wie es ist. Das ist auch gut so, dass wir zwei differente und unterschiedliche Vorstellungen haben. Aber ich glaube, es sind jedenfalls zwei starke europäische Persönlichkeiten, die sich jetzt hier einen friedlichen Wettkampf liefern. Sichergestellt muss nur werden, dass einer der beiden das dann auch wird, dass nicht Frau Merkel oder irgendwer anderer irgendwas überlegt.
    Riedel: Das ist nicht selbstverständlich. Das ist überhaupt nicht selbstverständlich, denn das letzte Wort werden die Staats- und Regierungschefs haben. Und dann könnte doch noch einer wie Kenny in Irland oder Polens Tusk oder Dänemarks Thorning-Schmidt oder Litauens Grybauskaite, also amtierende Regierungschefs oder Präsidenten, die jetzt noch nicht aus der Deckung kommen, letztendlich das Rennen machen?
    Nur wer kandidiert, kann auch gewählt werden
    Swoboda: Das letzte Wort hat das Europäische Parlament. Denn jeder Vorschlag des Rates muss im Parlament abgestimmt werden und jeder muss eine Mehrheit haben. Wir haben uns darauf geeinigt - ich hoffe, dass alle sich daran halten, nämlich die Fraktionsvorsitzenden von der EVP, ich selbst für die S&D und die Liberalen et cetera -, dass nur ein Kandidat in Frage kommt und eine Mehrheit im Europäischen gewinnen kann, der auch kandidiert. Es ist ja auch nicht in Deutschland so, dass Frau Merkel kandidiert und dann wird Herr Schäuble Bundeskanzler, sondern es geht ja darum, dass derjenige oder diejenige, die kandidieren, auch die Chance bekommen. Und die Regierungschefs haben ja mitgeredet. Es glaubt doch niemand, dass der Herr Juncker gewählt worden wäre, wenn Frau Merkel nicht zugestimmt hätte. Bei Martin Schulz ist es dasselbe mit François Hollande und anderen. Also die Regierungschefs können nicht sagen: Ja, wir haben ja gar nicht da mitreden können. Sie haben mitgeredet, beide Seiten haben ihre Kandidaten vorgeschlagen. Wenn man kandidiert, dann will man auch gewinnen und dann will man auch der sein und dann kann nicht jemand anderer aus dem Hut gezogen werden. Das wäre eine grobe Missachtung der Demokratie. Und der Vertrag von Lissabon hat ja was geändert, dass man schon bei der Auswahl Rücksicht nehmen muss auf die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament, und daher werden wir auch nach der Wahl dem Rat sagen, welche Kandidaten überhaupt eine Mehrheit gewinnen könnten.
    Riedel: Ja, und dann können sie zustimmen oder dagegen stimmen, aber sie sind nicht diejenigen, die sagen: Der wird’s.
    Swoboda: Nein, aber auch der Rat kann nicht sagen: Der wird’s. Der Rat macht einen Vorschlag: Wir wollen das so machen - wir machen einen Vorschlag. Der Rat schaut sich das an und kann aber nur aus den Kandidaten wählen, die auch wirklich kandidiert haben, denn er muss eine Mehrheit bekommen. Wenn wir im Parlament hoffentlich stark genug sind zu sagen: Mehrheiten bekommt nur derjenige, der auch wirklich kandidiert hat, dann kann der Rat nichts anderes machen.
    Der Plenarsaal im Europaparlament
    Die Wahl zum Europaparlament ist auch ein Stimmungstest für Europa (picture alliance / dpa / Anthony Picore)
    Riedel: Jetzt haben wir schon gesagt, der Wahlkampf dürfte unterhaltsam werden - zwei überzeugte Europäer, mit zum Teil unterschiedlichen Ansichten zu der Zukunft Europas, beide für einen guten, beherzten Spruch gut. Ein guter Wahlkampf ist noch nicht unbedingt ein Ausweis dafür, dass es dann einen guten Kommissionspräsidenten gibt. Wie sieht denn das Job-Profil für Sie aus? Was muss einer mitbringen, der ein guter Kommissionspräsident sein will?
    Swoboda: Also erstens muss er natürlich Europa wollen. Zweitens muss auch ganz klar sein, dass durch die Person, die jetzt an die Kommission kommt, auch die Haltungen, die Europa kritisch sehen, aufgenommen werden. Es kann nicht ein "Weiter so" sein. Wir wollen ja jemand haben, der drittens, mit der Bevölkerung mehr kommuniziert. Europa ist weit weg von den Menschen, daher ist es ganz wichtig, dass der Kommissionspräsident in viel größerem Ausmaß mit den Menschen kommuniziert, deren Sorgen, deren Ideen aufnimmt. Also der Kommissionspräsident in Zukunft muss in dem Sinne, nicht parteipolitisch, aber in dem Sinne eine viel politischere Figur sein, nicht ein Cheftechnokrat, damit er auch wieder die Zustimmung der Bevölkerung für europäische Angelegenheiten bekommen kann.
    Die Regierungen arbeiten eigentlich permanent gegen das Europaparlament
    Riedel: Herr Swoboda, es wird ja auf alle Fälle "technische" Probleme - technisch in Anführungsstrichen - bei diesem Wahlkampf auf Europaebene geben. Es gibt keine europäischen Medien als solches, nur nationale Medien. Die Wahlkampfauftritte in den meisten Ländern können nur mit Dolmetschern durchgeführt werden. Und dann kommt ja noch hinzu, jenseits vom eigenen Heimatland sind die Kandidaten gar nicht direkt wählbar – also Martin Schulz steht nur in Deutschland auf dem Wahlzettel und Jean-Claude Juncker nur in Luxemburg. Inwieweit beeinträchtig das die Idee, dass es ja Sinn macht, da jemanden tatsächlich als Spitzenkandidaten gemeinsam aufzustellen?
    Swoboda: Ach schauen Sie, das ist das erste Mal, dass wir Spitzenkandidaten haben, das wird auch nicht schon ein voller Erfolg von vorne herein sein. Das nächste Mal wird es vielleicht notwendiger sein, die Kandidaten früher zu wählen, damit sie sich auch einmal bekannt machen können. Darüber hinaus ist sicher, dass nicht in allen Ländern die Kandidaten gleich wirken werden. Die Social Media, also Facebook, Twitter und so weiter, werden verwendet werden, es gibt ein paar Fernsehdiskussionen, aber es ist das erste Mal, dass Europa stärker vorhanden ist und dass Persönlichkeiten an der Spitze stehen. Wir wissen, Politik hat auch etwas mit Persönlichkeiten zu tun. Und der letzte Punkt: Vor allem für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Parteien, die werben gehen, die argumentieren, für die ist wichtig, dass sie wissen, für wen sie das machen.
    Riedel: Welche Wahlbeteiligung wäre für Sie die Mindestmarge? Beim letzten Mal war es knapp über 40 Prozent.
    Swoboda: Natürlich wäre es toll, hätten wir 50 Prozent. Es gibt amerikanische Wahlen, wo es auch sehr geringe Wahlbeteiligung gibt…
    Riedel: Na gut, die machen wir uns nicht zum Vorbild.
    Swoboda: Die machen wir uns nicht zum Vorbild. Gut, wenn wir einen Präsidenten wie Obama bekommen würden, das wäre nicht so schlecht. Aber man sollte das aber nicht nur daran sehen. Es kann eine hohe Wahlbeteiligung geben und wenn die alle nach Rechts, in die Rechtsextremisten hineingehen, so freut mich das nicht, die hohe Wahlbeteiligung. Ich weiß, dass viele Regierungen das als Anlass nehmen werden zu sagen: Ihr seid ja nicht einmal legitimiert - aber es sind ja auch die Regierungen, die ja permanent eigentlich gegen das Europaparlament arbeiten und die verhindern - die Parteien jedenfalls in den Regierungen -, dass das Europaparlament auch populärerer oder mehr bekannt wird. Wichtig ist, dass die Parteien der Mitte, dass die gestärkt werden und dass die Parteien gestärkt werden, die zwar pro-europäisch sind, aber auch etwas machen wollen, dass Europa wieder stärker bei den Menschen verankert wird.
    Riedel: Herr Swoboda, vielen Dank für das Gespräch.
    Swoboda: Bitte, sehr gerne.