Der Trend verstärkte sich in dieser Woche noch: Immer mehr Umfragen sehen Wolodymyr Selenskyj sehr deutlich vor seinen Mitbewerbern. Der 41-jährige Kabarettist dürfte damit ziemlich sicher in die Stichwahl einziehen. Knapp 30 Prozent der Wähler wollen für ihn stimmen. Um den zweiten Platz kämpfen der amtierende Präsident Petro Poroschenko und die Ex-Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko. Mit etwas besseren Vorzeichen für den Amtsinhaber. Der Kiewer Politologe Wolodymyr Fesenko:
"Die Wahl findet unter besonderen Umständen statt. Der Konflikt mit Russland um die Krim und in der Ostukraine dauert an. Und gleichzeitig haben die politischen Eliten enorm an Vertrauen verloren. So erklärt sich das Phänomen Selenskyj, die Bereitschaft der Menschen, für ihn zu stimmen."
Nicht nur der Kandidat ist höchst ungewöhnlich, auch sein Wahlkampf ist es. Selenskyj tritt kaum in seiner neuen Rolle als Politiker auf, sondern vor allem weiterhin als Kabarettist. Mit seiner Truppe "Kwartal 95" stand er noch am vergangenen Wochenende auf der Bühne. Und erst am Mittwoch lief die dritte Staffel seiner Fernsehserie "Diener des Volkes" an. Da spielt er einen Geschichtslehrer, der mehr oder weniger zufällig Präsident wird.
Poroschenkos Fehler
Ein Programm hat Selenskyj nicht. Klar ist nur, dass er durch seine Rhetorik eher jüngere Ukrainer anspricht - und eher die Menschen im russischsprachigen Osten des Landes, aus dem er stammt.
Vor fünf Jahren hatte Petro Poroschenko die Wahl noch im ersten Wahlgang gewonnen. Aber er hat viele enttäuscht, auch in seiner Hochburg in Lemberg in der Westukraine. Poroschenkos Wahlkampfmanager dort, Anatolij Romaniuk, gibt das zu:
"Er hat viele Fehler gemacht. Der Kampf gegen die Korruption war sicher nicht ausreichend. Außerdem gibt es in seinem Umfeld eine ganze Reihe von Politikern, die beschuldigt werden, ihre Stellung missbraucht zu haben. Das ist nicht immer konsequent aufgeklärt worden."
Allerdings gibt es auch Ukrainer, die argumentieren, unter Poroschenko habe die Ukraine immerhin ein Assoziierungsabkommen mit der EU geschlossen und eine schlagkräftige Armee aufgebaut.
Tymoschenkos Versprechen
Die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko steht in den Umfragen zwar etwas schlechter da als Poroschenko. Allerdings hat sie besonders viele Anhänger in ländlichen Gebieten, die von den Meinungsforschungsinstituten in der Ukraine schwerer zu erfassen sind. Sie machte im Wahlkampf sehr weit gehende Versprechen. Mit ihr werde sich das Durchschnittseinkommen in den nächsten fünf Jahren fast verdreifachen, erklärte sie. Oleksandr Neberykut von der Nicht-Regierungsorganisation "Opora", die den Wahlkampf beobachtet:
"Viele kritisieren Tymoschenko dafür, dass sie die Fakten manipuliert und Dinge verspricht, die für unsere Wirtschaft gefährlich sind oder sogar für unsere nationale Sicherheit. Etwa, dass sie den Verbraucherpreis für Gas deutlich senken will. Aber wir haben eben viele Wähler, die glauben, Politiker könnten die Wirtschaft beliebig steuern, das ist ein Erbe der Planwirtschaft."
Nach dem ersten Wahlgang am Sonntag würden die Karten ohnehin neu gemischt, sagen Experten. Der Kabarettist Selenskyj werde sich vor der Stichwahl deutlich mehr persönlich in den Wahlkampf einbringen müssen. Niemand weiß, ob er auch dann die Ukrainer von sich überzeugen kann.