Dirk Müller: Wladimir Putin hat gemeinsam mit Barack Obama die ganze Situation verfolgt und hat dann ebenfalls, wie der amerikanische Präsident, gesagt: Lasst die Waffen schweigen. Wir wollen einen friedlichen Übergangsprozess, eine friedliche Übergangslösung in der Ukraine. Russland und die Ukraine – das ist jetzt unsere Perspektive, die wir besprechen wollen mit Osteuropafachmann Alexander Rahr, Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums in Berlin. Guten Tag!
Alexander Rahr: Guten Tag, Herr Müller!
Müller: Herr Rahr, wir haben das eben alles gehört: Die Situation, sie ist noch nicht ganz eindeutig, aber wir haben immerhin schon Hinweise bekommen, wir haben immerhin schon Orientierungshilfen bekommen. Hat Moskau jetzt schon einen Verbündeten verloren?
Rahr: Also die Analyse teile ich im Großen und Ganzen von Sabine Adler. Ich würde sagen, zugespitzt formuliert: Der Oberkommandierende, der Oberbefehlshaber der Armee und der Streitkräfte, der Sicherheitsdienste ist geflüchtet – das ist Janukowitsch. Und es ist ein riesiges Machtvakuum entstanden, das gefüllt werden muss. Janukowitsch war niemals Verbündeter Russlands gewesen. Man erinnere sich, bei dem Wahlkampf vor vier Jahren hat Russland eigentlich noch zu Timoschenko gehalten und mit ihr diese Gasdeals gemacht und nicht mit Janukowitsch, und er hat auch nie das Vertrauen Russlands gehabt. Deshalb verhält sich Wladimir Putin, denke ich, jetzt richtig. Er kann nicht Partei ergreifen für Janukowitsch und er wird es auch nicht tun. Das Einzige, was Russland tun wird, ist, in der Tat sich schützend vor die ethnischen Russen in der Ostukraine zu stellen, falls Angriffe, physische Angriffe gegen sie gestartet werden sollten, was ich allerdings heute nicht sehe.
Putin kann nicht für Janukowitsch Partei ergreifen
Müller: Herr Rahr, Sie sagen, die waren nie verbündet miteinander, also Putin und Janukowitsch. Janukowitsch soll aber, jedenfalls aus Sicht Brüssels, ja gut genug gewesen sein für Putin, um die Ukraine aus Europa rauszuholen oder wegzudrängen.
Rahr: Ja, wir haben hier im Westen solche Bilder schon entwickelt, die vielleicht für Zuschauer und Zuhörer interessant sind, aber die sind doch auch nicht gleich immer so realistisch. Russland ist einfach historisch mit der Ostukraine immer verknüpft gewesen. Wirtschaftlich lebt die Ostukraine vom Handel mit Russland, mit der Produktion, die man nach Russland verkauft, in die Europäische Union. Janukowitsch hat, denke ich, etwas Selbstverständliches gemacht, indem er Russland nicht aufgegeben hat, sondern die Märkte für sich offengehalten hat. Bloß hat er diese Politik völlig falsch verkauft. Es entstand in der Tat der Eindruck, dass er, nachdem er zwei Jahre lang seiner Bevölkerung suggeriert hatte, dass man nach Europa geht und westliche Werte einführt, das plötzlich von einem Tag auf den anderen gestoppt hat und gesagt hat: Wir kehren dem Westen den Rücken zu und machen alles nur noch mit Russland.
Müller: Also aus der Moskauer Sicht durchaus rational ohnehin, aber auch vollkommen politisch nachvollziehbar, dass man das Portemonnaie großzügig geöffnet hat in Richtung Kiew?
Rahr: Das Portemonnaie hat man geöffnet, in der Tat, um sich auch genauso den Ostmarkt der Ukraine weiter zu sichern, wie der Westen daran Interesse hatte, nicht nur aus moralischen und demokratischen Gründen die Ukraine an den Westen zu binden im Assoziierungsvertrag, sondern auch natürlich für sich auch Märkte zu gewinnen. Wir müssen doch die Rationalität des Geschehens auch verstehen. Aber jetzt geht es, denke ich, allmählich nicht mehr um Janukowitsch, um die Oligarchen, die um ihn stehen, sondern um das Land selbst. Und wir haben es mit einem Machtkampf zu tun, der jetzt kommen könnte, der sich nicht mehr in Kiew abspielen wird, Kiew ist in der Hand – aus meiner Sicht – der Eliten, die diese Revolution, diesen Aufstand jetzt gewonnen haben, sondern es wird jetzt sehr viele dramatische Stunden, Tage geben, wo die Zukunft der Ukraine auf dem Spiel steht. Es werden Abspaltungstendenzen kommen. Man muss damit rechnen, dass Janukowitsch versuchen wird oder vielleicht nicht er, aber die Kräfte, die mit ihm zusammenarbeiten, wenigstens die Ostukraine als Machtbasis für sich zu erhalten, aber gleichzeitig hat sich die Westukraine auch schon für quasi unabhängig von Janukowitsch erklärt.
"Wie kann das Land allgemein stabilisiert werden?"
Deshalb ist die bange Frage, die uns alle angeht – und da muss der Westen mit Russland zusammenarbeiten: Wie kann das Land allgemein stabilisiert werden? Wenn es nicht anders geht, muss es einen friedlichen Zerfalls-, nicht Zerfalls-, Verteilungsprozess geben wie in der Tschechoslowakei, ohne Blutvergießen, im Einverständnis und mit davor abgehaltenen Referenden, und dafür kann der Westen und Russland eine gewisse Sicherheitsgarantie übernehmen.
Müller: Herr Rahr, Sie müssen uns da noch ein bisschen helfen, die ganze Sache zu sortieren. Die Spaltung des Landes steht bevor, Fragezeichen, Ausrufezeichen. Das ist umstritten. Aber Sie haben jetzt auch von dieser Option gesprochen. Da sagen einige, gut, also Unabhängigkeit und Spaltung muss nicht per se ein Problem sein. Andere sagen, immer, wenn es Spaltungen gegeben hat, hat das meistens auch zu Gewalt geführt. Aber um auf die russische Position jetzt einmal zurückzukommen: Hat Wladimir Putin, wenn die alte Machtelite weg ist, wenn sie nicht mehr präsent ist, hat er Ansprechpartner, hat er noch Einfluss?
Rahr: Er wird auf die Kräfte, die jetzt heute in der Ukraine, in Kiew das Sagen haben, keinen Einfluss mehr haben. Allerdings werden sich die Oppositionsvertreter, die jetzt an die Regierung kommen, Klitschko, Jazenjuk, wahrscheinlich auch Frau Timoschenko, fragen müssen, wie sie das Land dann stabilisieren können. Mit Worten aus dem Westen oder aus Russland ist nichts getan. Die Ukraine braucht dringend Geld, und zwar in Milliardenhöhe, und jemand muss ihr das Geld geben, jemand muss von außen diesen Prozess in der Ukraine stabilisieren. Und da wird aus meiner Sicht, wenn die Ostukraine weiterhin zur Ukraine gehören wird, auch der jetzigen Regierung nichts anderes übrig bleiben, als mit Russland ökonomisch engstens zusammenzuarbeiten. Das ist doch logisch.
Müller: Und Wladimir Putin hat nach wie vor ein Interesse daran, die russische Einflussnahme weiter zu betreiben und dann auch Politik mitzubestimmen.
"Es hat einen Aufstand gegeben, eine Revolution"
Rahr: Noch einmal: Es geht nicht nur um Putin allein. Russland hat immer einen Einfluss auf die Ostukraine, nicht auf die Westukraine. In der Ostukraine leben 20 Millionen ethnische Russen, vielleicht sind es sogar 40 Millionen. Sie werden sich von einer Westukraine, in der auch noch Nationalisten an der Regierung sitzen, die werden sich dieser Kontrolle dieser Regierung nicht unterstellen. Es wird dann ständig auch Machtkämpfe auf regionaler Ebene geben. Deshalb ist Vernunft jetzt angesagt, und ob jetzt Putin im Kreml regiert oder ein Demokrat wie Jawlinski – die Russen werden immer Einfluss auf die Ukraine haben, genauso wie der Westen auf die Westukraine größten Einfluss nehmen wird. Das ist das Schicksal der Ukraine. Und am besten ist, was bisher ja eben noch nicht der Fall gewesen ist, dass sowohl die Europäische Union und Amerika auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite endlich mal anfangen, auch vernünftig über die Ukraine zu reden, um die Prozesse in der Ukraine zu retten, damit das Land in der Tat nicht zerfällt und es nicht noch mehr Blutvergießen wird. Man spricht ja nicht mehr von einer Demonstration, sondern Protesten. Es hat einen Aufstand gegeben, eine Revolution. Anders kann man das heute, glaube ich, nicht mehr bezeichnen. Die muss in friedliche Fahrwasser jetzt geleitet werden. Ich denke, das können nur vernünftige Kräfte von außen mit begleiten.
Müller: Sie sagen, der Westen soll endlich damit anfangen, auch Russland soll endlich damit anfangen, das heißt aber auch, aus unserer Perspektive: Der Westen hat das bisher nicht vernünftig versucht.
Rahr: Na ja, und Russland hat es nicht vernünftig versucht, mit dem Westen über die Ukraine zu reden. Beide Seiten trifft eine Schuld. Und Frau Merkel und Herr Steinmeier haben das in den vergangenen Monaten sehr treffend gesagt: Man hätte von westlicher und von russischer Seite die Ukraine nicht vor die Wahl stellen müssen, entweder EU oder Zollunion. Das war der gravierende Fehler. Und jetzt muss dieser Fehler ausgebessert werden.
Müller: Hat Frau Merkel aber getan.
"Seit 25 Jahren nicht vom russischen Gas freigemacht"
Rahr: Das hat nicht die Frau Merkel getan, sondern das hat die EU-Kommission gemacht, das haben die Europäer gemacht, das hat die östliche Partnerschaft, an der Deutschland gar nicht mal so viel Anteil hatte, mit provoziert, dass in der EU-Politik gegenüber Osteuropa der letzten fünf Jahre der Eindruck entstehen musste, auch bei Russland, dass dies hier eine Politik gegen Russland ist und dass die Ukraine aus dem russischen Einflussgebiet herausgezogen werden muss. Das war, denke ich, ein falsches Signal. Über eine Zusammenarbeit wären wir viel weiter. Die Ukraine ist nicht Polen, die Ukraine ist in der Tat, wahrscheinlich der Osten Ukraine, zu 100 Prozent wirtschaftlich von Russland abhängig, und man darf auch nicht vergessen: Die Ukraine hat es auch nicht geschafft in den letzten 25 Jahren, seit der Unabhängigkeit, sich frei vom russischen Gas zu machen. Die Ukraine, die ganze ukrainische Industrie – und die ist im Osten des Landes mehrfach angesiedelt – ist von russischen Gaslieferungen abhängig, und egal, ob man das jetzt kritisch sieht, ob man das verurteilt – es ist aber Fakt. Und damit muss man jetzt umgehen. Die Russen könnten im schlimmsten Fall den Gashahn jetzt nicht zudrehen, das werden sie niemals machen, aber wieder den Preis anheben und die Kredite an die Ukraine stoppen. Und dann müssen wir als Westeuropäer, als Amerikaner wahrscheinlich in die Bresche springen. Das wird sehr, sehr teuer werden, und vor allen Dingen fragt man sich: Wer ist in der Lage, welche Regierung ist in der Lage, diese Reformen, die 20 Jahre lang verschleppt wurden, jetzt schnell durchzuführen, damit sich die Menschen, die ja zu Recht auf die Straße gegangen sind, um gegen soziale Missstände zu protestieren, endlich sich auch als Europäer fühlen und ein anständiges Leben führen können?
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Osteuropaexerte Alexander Rahr, Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums in Berlin. Vielen Dank für das Gespräch, ein schönes Wochenende!
Rahr: Gerne, Herr Müller!
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