Verhandlungsstart
Wie der EU-Beitritt der Ukraine verlaufen kann

Die Ukraine ist seit 2022 Kandidat für einen EU-Beitritt. Nun beginnen offiziell die Verhandlungen. Das Land hat viele Fortschritte gemacht, um die Beitrittskriterien zu erfüllen. Doch es bleibt viel zu tun – auch für die EU.

    Präsident Selenskyj im Kreis von EU- und anderen Regierungschefs
    Der Traum von Europa: Der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj zwei Wochen vor Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen. (picture alliance / Newscom / MASSIMILIANO DE GIORGI)
    Bereits im Februar 2022, kurz nach der russischen Invasion, stellte die Ukraine den Antrag auf Aufnahme in die EU, vier Monate später wurde ihr der Kandidatenstatus zuerkannt. Anfang November 2023 empfahl die EU-Kommission nach einer Bewertung der Situation in einem Fortschrittsbericht die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Am 25. Juni 2024 haben sie in Luxemburg begonnen.

    Übersicht:

    Wie ist der Zeitplan der Verhandlungen?

    Zunächst gab es am 25. Juni zwei Regierungskonferenzen, für jedes Land eine. Die Regierungskonferenz ist ein Gremium, das in den EU-Verträgen vorgesehen ist und das tätig wird, wenn es etwa um Vertragsänderungen oder Erweiterungsfragen geht. De facto besteht die Regierungskonferenz aus den Ratsformationen der Europaminister der Mitgliedstaaten. Sie legen den Vertretern der Ukraine den sogenannten Verhandlungsrahmen vor. Das ist das Gebiet, dass die Mitgliedstaaten abgesteckt haben und in dem sich die Unterhändler der EU-Kommission bei den jahrelangen Verhandlungen bewegen müssen.

    Screening-Prozess

    Nach der Regierungskonferenz findet das sogenannte Screening statt. Dabei wird das gesamte Europarecht, das in 35 Kapitel aufgeteilt ist, mit den Gesetzen der Beitrittskandidaten verglichen. Wo gibt es schon Übereinstimmungen? Wo muss es Reformen geben? Dieser Prozess dauert in der Regel ein Jahr. In diesem Falle könnte es aufgrund der intensiven Vorbereitungen etwas kürzer sein, sagen Kommissionsbeamte.
    Nach dem Screening geht es in die konkreten einzelnen Verhandlungen. Der Beginn eines jeden Kapitels muss einstimmig beschlossen werden, dasselbe gilt für den Abschluss eines Kapitels.

    Beitrittsdatum unbekannt

    Die Frage, wann der Beitritt der Ukraine vollzogen sein wird, kann derzeit niemand beantworten. Zumal der russische Angriffskrieg offensichtlich das Ziel verfolgt, die staatliche Souveränität der Ukraine zu beenden. Ein russischer Satellitenstaat mit einer vom russischen Präsidenten eingesetzten Marionettenregierung würde sicherlich keinerlei Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft haben, weil dies in der Konsequenz bedeuten würde, dass das russische Regime bei allen Entscheidungsprozessen der EU mit am Tisch sitzen würde.
    Die Grafik zeigt eine Karte der EU-Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten
    Die EU-Beitrittskandidaten (Stand: 25.06.2024) (dpa / dpa-infografik GmbH)

    Beschleunigung denkbar

    Generell gibt es Gründe und Möglichkeiten, einen Beitrittsprozess zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Eine Beschleunigung ist im Falle der Ukraine aufgrund der intensiven Vorbereitungen denkbar. Die Möglichkeit, den Beitrittsprozess zu ,,überspringen“ und etwa die Ukraine sofort als Mitglied aufzunehmen, ist in den EU-Verträgen allerdings nicht vorgesehen.

    Keine Aussage von der Leyens

    Die EU-Kommission hat die Position, dass sich der Beitrittsfortschritt nach den Fortschritten in den Kandidatenländern richtet. Charles Michel, der EU-Ratspräsident, hat gesagt, die EU müsse bis 2030 aufnahmefähig sein, also die eigenen Reformen bewältigt haben. Ob das so kommt, ist offen. Ob dann aber nach 2030 direkt der Beitritt kommt, ist auch offen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betont, dass ein Beitritt auf Leistung beruht. Sie hat allerdings gleichzeitig die Erweiterung als historischen Auftrag bezeichnet. Auf ein Beitrittsdatum hat sich die Kommissionschefin nicht festgelegt.

    Welche Fortschritte hat die Ukraine erzielt?

    Im Sommer 2022 bekam das Land eine Liste mit sieben umfangreichen Reformprojekten, die innerhalb von zehn Jahren vollzogen sein müssen, darunter Verbesserungen im Justizsystem und bei der Korruptionsbekämpfung. Anfang 2023 lobte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Fortschritte der Ukraine in der Korruptionsbekämpfung. In der Zeit davor waren dort mehrfach Konsequenzen aus Korruptionsfällen gezogen worden.

    Auflagen zur Korruptionsbekämpfung laut EU-Kommission erfüllt

    Anfang November 2023 kam die EU-Kommission zu dem Schluss, dass die Ukraine inzwischen weit über 90 Prozent der Auflagen bereits erfüllt habe. Darunter fallen Felder wie die Verfassungsgerichtsbarkeit, Auswahl des hohen Justizrates, das Antikorruptionsprogramm, Bekämpfung der Geldwäsche, Eindämmung der Oligarchen und das Vorgehen gegen die Monopolisierung. Inzwischen seien die Auflagen beim Kampf gegen Korruption erfüllt, stellte eine Kommissionssprecherin Anfang Juni fest.

    Offene Auflagen

    Konkrete Punkte, bei denen die Ukraine noch nachbessern muss, sind zum Beispiel die Aufstockung von Personal des Nationalen Antikorruptionsbüros und die Stärkung der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention. Eine weitere Herausforderung sind die Agrarsubventionen. Die landwirtschaftlich geprägte Ukraine wäre Studien zufolge bei einem Beitritt mit etwa 80 bis 85 Milliarden Euro der größte Empfänger der Hilfszahlungen. Das entspricht etwa einem Viertel der gesamten Subventionen im Agrarbereich und gilt als nicht darstellbar. Es ist ein Bereich, in dem sich die EU selbst reformieren muss, um ihrerseits reif für den Beitritt zu sein.

    Handelsfragen als wichtiger Punkt

    Die wohl größte Herausforderung werden, neben der Umsetzung der EU-Vorschriften, die Verhandlungen über den Handel mit anderen EU-Staaten. Die Ukraine ist, zumindest in Friedenszeiten, einer der größten Getreideproduzenten der Welt. Zuletzt wurde deutlich, dass andere EU-Länder diese Konkurrenz fürchten. 

    Warum könnte Ungarn den Ukraine-Beitritt stören?

    Ein weiterer Punkt, der zu einem Konflikt führen könnte, ist die Stärkung der Rechte von Minderheiten. Es gibt eine ungarische Minderheit in der Ukraine. Aus Budapest ist immer wieder zu hören, dass es in diesem Bereich große Ungerechtigkeiten seitens der Ukraine gebe. Dies wird von den ungarischen Gemeinden in der Ukraine allerdings nicht bestätigt und sogar zurückgewiesen. Die Auflagen zur Achtung von Minderheitenrechten seien inzwischen erfüllt, sagte eine Kommissionssprecherin Anfang Juni.
    Grundsätzlich grünes Licht für die Beitrittsgespräche war nur möglich gewesen, weil der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban beim EU-Gipfel im Dezember 2023 den Raum verlassen hatte. Die restlichen 26 Mitgliedstaaten konnten sich deshalb einigen.

    Ungarische EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Juli

    Der Beginn der Beitrittsgespräche am 25. Juni liegt vor der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli startet und sechs Monate dauert. Somit reicht das Screening-Verfahren über die Dauer der ungarischen Präsidentschaft hinaus, wodurch weitere Störmanöver Viktor Orbans im Beitrittsprozess reduziert werden können.
    Dennoch hat die ungarische Seite darauf hingewiesen, dass sie noch 75 Mal die Möglichkeit haben werde, ein Veto im Erweiterungsprozess einzulegen. Die Aussage bezieht sich auf die an das Screening anschließende Verhandlungszeit.

    Welche Reformen muss die EU noch leisten?

    Auch Brüssel wird noch viel tun müssen, damit die EU die Ukraine und andere Staaten aufnehmen kann. Dabei geht es vor allem um die Vereinfachung von Entscheidungsverfahren und die Agrarpolitik. In Bezug auf die Agrarpolitik steht eine Änderung der bisherigen Verteilung der Gelder im Fokus.
    Zudem sollen Entscheidungsverfahren schneller ablaufen, damit die EU auch mit noch mehr Mitgliedsstaaten handlungsfähig bleibt. Auf dem Prüfstand steht hier die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in vielen Politikbereichen.

    Online-Redaktion