Ein Sonntag im Zentrum der westukrainischen Stadt Lwiw. Vor der Statue des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko singen alte Menschen Trauerlieder: die Frauen in traditionell bestickten Blusen, langen Röcken und mit weißen Kopftüchern, die Männer in schwarzen Anzügen mit bestickten Hemdblusen. Sie erinnern an verschiedene Deportationen von Ukrainern im 20. Jahrhundert. Eine der Rednerinnen ist Sofiya Fedyna, 32 Jahre alt, Politik-Dozentin, ehemalige Maidan-Aktivistin, Sängerin. Sie sagt:
"Es gibt einen Witz: Patrioten sitzen im Parlament und tun nichts. Ein Nationalist dagegen ist ein Patriot, der etwas für das Land tut. Wir haben noch einen anderen Begriff, um Nationalisten zu beschreiben: Banderiwzy, nach Stepan Bandera, dem Anführer der Organisation ukrainischer Nationalisten. Banderiwzy kämpfen für die Integrität der Ukraine und für unser Recht, friedlich innerhalb der Grenzen der Ukraine zu leben, die Russland verletzt hat."
Sofiya Fedyna war gerade an der Front in der Ostukraine, ist vor ukrainischen Soldaten aufgetreten, um sie zu motivieren.
Kontroversen um Stepan Bandera
Stepan Bandera, auf den sich die Nationalisten berufen, ist eine umstrittene Figur. Der radikale Nationalist und Partisanenführer kämpfte gegen die Sowjetmacht und rief im Juni 1941 einen unabhängigen ukrainischen Staat aus. Am selben Tag gab es in Lemberg, wie Lwiw damals hieß, ein Massaker, bei dem 7.000 Menschen ermordet wurden: vor allem Juden und Kommunisten. Ob Stepan Bandera daran beteiligt war, ist umstritten. Vor Ort war er wohl nicht. Im Osten der Ukraine gilt Stepan Bandera als Nazikollaborateur. Die deutschen Besatzer sperrten ihn allerdings ins KZ Sachsenhausen. Dort wiederum war er Ehrenhäftling, wurde später sogar entlassen.
Sofiya Fedyna betont, dass sie - als Nationalistin - niemanden ausgrenze. In Lwiw hätten schon immer unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen zusammengelebt, und das solle auch so bleiben. Die ukrainische Kultur und Sprache müssten jedoch führend sein. Sie selbst spricht kein Russisch. Sofiya Fedyna:
"Ukrainischer Nationalismus hilft uns, zu überleben. Wir beanspruchen kein fremdes Territorium, wir wollen nicht in andere Länder einmarschieren, wir wollen Angehörige anderer Nationalitäten nicht in ihren Rechten beschränken. Aber irgendwie müssen wir unsere Rechte als Ukrainer schützen."
"Ich bin gezwungen, nicht einfach nur Patriot zu sein, sondern Nationalist"
Ganz ähnlich denkt auch Andrej Bondarenko. Er sitzt in einem Café am Stadtrand von Kiew und trinkt Tee. Vor fünf Jahren organisierte er den "Rechten Sektor" auf dem Maidan. Er ist Mitglied bei der UNSO, der "Ukrainischen Nationalen Selbstverteidigung", einer nationalistischen Bewegung mit einem starken paramilitärischen Flügel. In entwickelten Demokratien in Westeuropa wäre er konservativ, sagt Andrej Bondarenko.
"Ich bin gezwungen, nicht einfach nur Patriot zu sein, sondern Nationalist. Weil das Machtsystem bei uns oligarchisch-kleptokratisch ist. Es hält sich nur aus einem Grund: Weil die Bürger meines Landes, meine heißgeliebten Ukrainer, leider so dumm sind und ihre eigenen Interessen nicht vertreten. Deshalb muss ich Nationalist sein. Denn sie lassen sich sehr gut auf Extreme ein. Vielleicht kann man damit ihr Bewusstsein wecken."
Der Begriff Nationalist werde in der Ukraine häufig mit Patriot gleichgesetzt, sagt die Historikerin Olha Onuch. Sie war vor fünf Jahren auf dem Maidan und hat untersucht, wer dort demonstrierte; auch, wie viele Menschen dort rechtsextreme Ansichten vertraten.
"Nach unseren Schätzungen und Umfragen waren es nicht mehr als fünf Prozent. Es gab nationalistische Elemente, aber die meisten Protestierenden hingen bestimmt keinen radikalen nationalistischen Ideen an."