Mit einer Anfang September gestarteten Gegenoffensive, ist es den ukrainischen Streitkräften offenbar gelungen, die russischen Besatzer aus einer Reihe von strategisch wichtigen Städten zu vertreiben. Kiew fordert nun von seinen westlichen Verbündeten erneut mehr Unterstützung - in Form von Panzerlieferungen.
Wie sind die ukrainischen Rückeroberungen einzuschätzen?
Angaben zum Kriegsgeschehen von russischer und ukrainischer Seite lassen sich schwer bis kaum überprüfen. Im Zuge einer Gegenoffensive, die Anfang September begonnen hat, hat die Ukraine eigenen Verlautbarungen zufolge mehrere Tausend Quadratkilometer Landesfläche von russischen Kräften zurückerobert. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach zunächst von 3.000, am 12. September dann von 6.000 Quadratkilometern, die seine Streitkräfte seit Anfang September wieder unter ukrainische Kontrolle gebracht hätten.
Berichte des US-amerikanischen Institut for the Study of War sowie des britischen Geheimdienstes zur Lage in der Ukraine sprechen bislang von einer Rückeroberung von rund 3.000 Quadratmeter Landesfläche. Diese Berichte von Sicherheits- und Militärexperten gelten als relativ zuverlässig. Sie sich einig, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Truppen signifikant unter Druck gesetzt haben. In der Rückeroberung sehen Experten eine operative Niederlage der russischen Streitkräfte.
Allerdings sind die Geländegewinne im Verhältnis zur Größe des insgesamt durch Russland besetzten Gebietes relativ klein. Strategisch wichtig sind die Rückeroberungen trotzdem - wie zum Beispiel Isjum. Die ostukrainische Stadt diente der russischen Armee bislang als wichtiger Stützpunkt für den Nachschub seiner Truppen in der Ostukraine. Bemerkenswert ist, dass die russischen Streitkräfte offenbar fluchtartig aus den zurückeroberten Gebieten abgezogen sind. Zeichen dafür sind zum Beispiel zurückgelassene Panzer, Panzerhaubitzen und gepanzerte Fahrzeuge.
Die Erfolge Ukraine im Nordosten wurden auch durch eine Kriegslist vorbereitet. So sprach die ukrainische Regierung über den Sommer stets davon, einen großangelegten Gegenangriff im Süden zu planen. Dort verstärkte der Kreml daraufhin seine Truppen und zog dafür Kräfte aus dem Norden ab. Zwar griff die ukrainische Armee die Besatzer auch im Süden in der Region Cherson an, allerdings nicht mit der Stärke wie im Nordosten. Die vergleichsweise schnellen Geländegewinne dort, waren wohl unter anderem auch wegen der reduzierten russischen Truppenpräsens möglich.
Das Institute for the Study of War geht davon aus, dass es den russischen Streitkräften früher oder später gelingen wird, im Osten eine Verteidigungslinie aufzubauen, von der aus sie dann wieder Gegenangriffe starten werden. Die aktuellen Geländegewinne der Ukraine sind somit nicht dauerhaft gesichert. Gleichzeitig gehen die Experten des Instituts davon aus, dass die ukrainische Armee gerade das Momentum auf ihrer Seite hat und die Gegenoffensive weitergeführt wird.
Welche Rolle spielen westliche Waffen beim ukrainischen Gegenangriff?
Die Experten sind sich auch einig, dass westliche Unterstützung bei der Rückeroberung von ukrainischem Staatsgebiet eine große Rolle gespielt hat. Zum einen sind die ukrainischen Truppen durch zum Beispiel Deutschland und Großbritannien ausgebildet worden. Zum anderen profitiert die Ukraine von westlichen Distanzwaffensystemen, wie etwa den sieben von Deutschland und den fünf von den Niederlanden gelieferten Panzerhaubitzen. Die USA stellte nicht nur 110 Haubitzen, sondern auch zwei Dutzend sogenannten HIMARS-Raketenwerfer zur Verfügung. Im Umfang der Waffenlieferungen aus Deutschland sind derzeit lediglich drei Raketenwerfer aufgelistet.
Alle diese Distanzwaffensysteme sind präzise und haben eine große Weitreiche von 30 bis 70 Kilometern. Damit war die ukrainische Armee in der Lage, die russischen Nachschublinien teilweise komplett zu unterbrechen, wie etwa im Süden, wo mehrere wichtige Brücken zerstört wurden. Im Norden wurde mit den weitreichenden Waffen auch Kommunikationssysteme der russischen Truppen attackiert und diese damit im Kampfgeschehen geschwächt.
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Diskussion um Waffenlieferungen aus Deutschland
Durch die neuerliche Forderung aus Kiew, die Gegenoffensive durch die Lieferung von Kampfpanzer zu unterstützen, wird die in Deutschland seit Monaten geführte Debatte über die Lieferung schwerer Waffen neu entfacht. In der Ampel-Koalition mehren sich die Stimmen, die solche Lieferungen befürworten.
So betonte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD), es müsse in dieser entscheidenden Phase des Kriegs eine enge Abstimmung mit den USA und der NATO über eine mögliche Unterstützung geben. Nur Deutschland und die USA könnten die von der Ukraine erwarteten Panzer liefern, so Roth im Dlf. Er unterstrich, dass dabei nicht nur um die Unterstützung der Ukraine gehe, sondern vielmehr um demokratische Freiheitswerte, die dort verteidigt würden.
Auch der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter wies daraufhin, dass die Ukraine in der aktuellen Situation alle militärische Unterstützung, die möglich ist, erhalten müsse. Deutschland könne sofort Marder- und Leopard-2-, Fuchs- und Dingo-Panzer liefern. Der Transportpanzer Fuchs könne zudem rasch nachproduziert werden.
Bisher hält sich vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei direkten Lieferungen von schweren Waffen zurück - mit dem Hinweis darauf, dass auch die großen NATO-Partner keine Panzer direkt liefern und Deutschland keine Alleingänge unternehmen wolle.
Von Seiten der Bundesregierung machte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) am 12. September bei einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, die Position der Bundesregierung noch einmal deutlich: „Noch kein Land hat Schützen- oder Kampfpanzer westlicher Bauart geliefert, und wir haben uns darauf verständigt, auch mit unseren Partnern, dass wir da keine deutschen Alleingänge machen. Und das ist die Vereinbarungen. An der halten wir auch fest.“
Laut Aussagen der US-Botschaft in Berlin gibt es eine solche Vereinbarung aber offenbar gar nicht. "Die Entscheidung über die Art der Hilfen liegt letztlich bei jedem Land selbst", teilte die US-Botschaft auf Twitter mit und verwies in diesem Zusammenhang auch auf ein Interview von Botschafterin Amy Gutmann vom 11. September, in dem diese alle Verbündeten und Partner aufgerufen hatte, "der Ukraine im Kampf um ihre demokratische Souveränität so viel Unterstützung wie möglich zu gewähren".
Zuvor hatten bereits das britische Verteidigungsministerium und die baltischen Staaten Absprachen zu Waffenlieferungen dementiert. Offenbar fehlt der Bundesregierung der politische Wille, eine internationale Führungsrolle zu übernehmen und Kampfpanzer zu liefern.
Das dies durchaus mögliche wäre, bestätigte der Rüstungskonzern Rheinmetall gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio. Demnach seien 16 Marder-Schützenpanzer aus alten Bundeswehrbeständen wiederhergestellt und "auslieferfähig" - allerdings liege noch keine Ausfuhrgenehmigung durch die Bundesregierung vor. Laut Rheinmetall könnten insgesamt rund 100 Marder aus Altbeständen wieder nutzbar gemacht werden.
Ein weiteres Argument, mit dem die Bundesregierung bislang ihr Nein zu Panzerlieferungen begründet, lautet, dass Deutschland Vorsicht walten lassen müsste, um nicht die eigene Landesverteidigung zu gefährden und die NATO-Übereinkunft zur Verstärkung der Ostflanke zu erfüllen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat auch dieses Argumente jüngst entkräftet, als er feststellte, dass es momentan wichtiger sei, die Ukraine zu unterstützen, als nach Plan gefüllte Waffenlager in NATO-Staaten zu haben.
Quellen: Marcus Pindur, cp