Silvia Engels: Seit dem Vormittag laufen die Meldungen, dass das ukrainische Parlament eine Reihe von Gesetzen abgelehnt hat, die alle in irgendeiner Form Erleichterungen für die inhaftierte frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko bedeutet hätten. Unter anderem wurde eine Behandlung der erkrankten Oppositionsführerin im Ausland abgelehnt.
Mitgehört hat Rebecca Harms, sie ist Fraktionschefin der Grünen im Europäischen Parlament und Mitglied im Ausschuss für parlamentarische Kooperation zwischen der EU und der Ukraine. Guten Tag, Frau Harms!
Rebecca Harms: Guten Tag.
Engels: Sind Sie jetzt überrascht von dieser Entscheidung in Kiew?
Harms: Mir war klar, als wir entschieden haben, unsere Bemühungen für das Assoziierungsabkommen und für Freiheit von Frau Timoschenko fortzusetzen, dass das kein Weg sein würde, der in den letzten Wochen von Vilnius reibungslos verlaufen würde. Ich habe mit allem gerechnet, was jetzt passiert.
Engels: Jetzt haben wir es ja gerade gehört: das ist ja wieder etwas differenziert zu betrachten. Die, sage ich mal, Timoschenko-Gesetze wurden abgelehnt, aber ein Gesetz ging wohl durch beziehungsweise wird morgen noch mal alles behandelt werden, dass das Gesetz zur Generalstaatsanwaltschaft, das die selektive Justiz, die von der EU ja auch immer kritisiert worden ist, regeln will, besser wird. Haben Sie hier einen Anknüpfungspunkt, dass vielleicht das Assoziierungsabkommen doch zu retten ist?
Harms: Es gibt ja offensichtlich eine Salami-Taktik in Kiew. Das hat damit zu tun, denke ich, dass auch innerhalb der Partei der Regionen, also der Partei hinter Viktor Janukowitsch, Leute sind, die wissen, dass das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union für die Interessen der Ukraine, für die bessere demokratische und wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine der richtige Weg ist. Es geht jetzt eigentlich immer wieder um die Frage, ob es wichtiger ist, die politische Herausforderin, die politische Gegnerin im Gefängnis zu behalten, oder ob es wichtiger ist, sich für die bessere Zukunft, die auch von den Bürgern in der Ukraine gewünscht wird, einzusetzen.
Engels: Dann drehen wir es doch mal anders herum. Was ist denn wichtiger für Sie? Könnte man nicht damit zufrieden sein, zumindest breite Verbesserungen, wenn die selektive Justiz nicht mehr so stark zum Greifen kommt, wahrzunehmen und dafür diese strenge Forderung, dass Timoschenko freigelassen werden muss, vom Tisch zu nehmen?
Harms: Wir haben die Forderungen immer gleichzeitig erhoben. Wir waren damit übrigens auch schon erfolgreich. Drei ehemalige Minister der Timoschenko-Regierung sind ja inzwischen im Wege der Begnadigung, besonderer Bedingungen, die es dafür gab, frei gekommen, und wir wollen das auch für Julia Timoschenko erreichen. Glaubwürdiger Abschied von selektiver, politisch motivierter Justiz hat doch auch mit dem Fall Timoschenko zu tun und was da in der Ukraine passiert.
Engels: Das heißt, wenn Timoschenko nicht freigelassen wird, scheitert das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine?
Harms: Ich gehe im Moment davon aus, und das weiß ich auch von vielen Gesprächen mit Journalisten, mit Kollegen, mit Freunden in der Ukraine in den letzten Tagen, ich gehe im Moment davon aus, dass es immer noch die Chance gibt, dass Frau Timoschenko frei kommt, dass verstanden worden ist bei vielen, die in der Politik und rundum in Kiew engagiert sind, dass das keine willkürliche Bedingung ist, sondern ein ernsthaftes Anliegen, das auch die Entwicklung in der Ukraine im Auge hat.
Weil diese willkürliche Justiz, die muss ja auch aufhören in anderen Zusammenhängen. In kleineren Zusammenhängen leiden ja auch kleine Beamte darunter, kleine Leute. Es ist auch so, dass Geschäftsleute, die sich in Kiew engagieren wollen, eine Sicherheit haben wollen, und der Fall Timoschenko, der kann nicht gelöst werden vom Rest unserer Anliegen.
Engels: Aber wenn die selektive Justiz möglicherweise wirklich anders geregelt wird, dass das nicht mehr der Fall ist, ist es dann andererseits eine kluge Entscheidung, ein so weit reichendes Abkommen wie das Assoziierungsabkommen an eine einzige Person, nämlich Julia Timoschenko zu binden?
Harms: Es ist ja gerade das, was Präsident Janukowitsch gemacht hat. Bei allen anderen Fällen hat er nachgegeben. Er hat sich entschieden, sich in diesem Fall alleine nicht zu bewegen, und das finde ich schon beeindruckend, wie ein Präsident sich entscheidet, das gesamte Schicksal seiner Nation abhängig zu machen von diesem einen Fall. Die Europäische Union hat ja einen ganzen Forderungskatalog gestellt gehabt, der wichtig ist für dieses Abkommen.
Engels: Aber läuft die EU, wenn sie sich an diesen einen Fall klammert, nicht Gefahr, Kiew von der Europäischen Union wegzutreiben, nämlich in Richtung Russland?
Harms: Wir haben, glaube ich, zu lange unterschätzt - oder es gab da auch einen Moment, wo das nicht so im Fokus in der russischen Politik gestanden hat -, wir haben unterschätzt, wie sehr sich Moskau angegriffen fühlt durch die Entwicklung zur gesamten östlichen Partnerschaft der Europäischen Union. Kiew, die Ukraine ist ein Schlüsselland. Der Druck, den Moskau da jetzt aufgebaut hat, die Erpressung, die Moskau fährt unter Umgehung der WTO-Regeln, müsste die Europäische Union ja dazu drängen, Druck auf Moskau auszuüben, weil natürlich müssen wir dafür sorgen, dass die Länder in unserer östlichen Nachbarschaft sich unabhängig von Moskau entscheiden können, in welche Richtung sie wollen.
Engels: Aber wenn Sie sich am Fall Timoschenko festklammern, dann wird dieser Druck in Richtung Russland nicht kommen, sondern eher das Gegenteil, oder?
Harms: Ich würde nicht sagen, dass wir uns am Fall Timoschenko festklammern. Ich kenne Julia Timoschenko seit 2004. Sie ist mir bei meinem letzten Besuch in der Ukraine in ihrer Angelegenheit, als ich auch im Gefängnis war, noch mal näher gekommen, als sie mir je war. Wir glauben, dass es nicht richtig ist, dass man einen solchen eklatanten Fall von selektiver Justiz toleriert. Julia Timoschenko, wenn sie nicht frei kommt und begnadigt wird, sondern zur Behandlung nach Berlin kommt, kann ihren Fall vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof besser vertreten. Sie hätte wirklich eine Möglichkeit, dann insgesamt etwas für eine bessere Justiz in der Ukraine zu erreichen.
Engels: Rebecca Harms, die Fraktionschefin der Grünen im Europäischen Parlament. Vielen Dank für Ihre Zeit.
Harms: Auf Wiederhören!
Engels: Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.