Julia Timoschenkos Vertraute haben die höchsten Ämter der neuen Ukraine inne. Alexander Turtschinow ist nicht nur Vorsitzender des Parlaments, sondern wurde zum amtierenden Präsidenten der Ukraine gewählt. Ein anderer, einer der Oppositionsführer auf dem Maidan, Arseni Jazeniuk, gilt als Anwärter auf den Posten des Premierministers, ein dritter, Arsen Awakow, ist seit Samstag Innenminister. In den zweieinhalb Jahren, die die Chefin der Partei Vaterland inhaftiert war, behielt sie die Fäden in der Hand, Wenngleich es ihren Getreuen sehr wohl gelang, sich als fähige eigenständige Politiker zu profilieren. Sie agieren jetzt mit Augenmaß und Besonnenheit beim Umbau der Gesellschaft.
Auch auf dem Maidan war Timoschenko immer mit dabei. Am Holzgerüst, das im November mal ein Weihnachtsbaum werden sollte, weht ein riesiges Plakat mit ihrem Konterfei.
Zehntausende Ukrainer erwarteten sie gestern Abend, waren zugleich aber auch gekommen, um die Toten zu ehren. 82 offiziell. Frauen legten Blumen auf die improvisierten Altäre. Jubel, Euphorie klingen anders, bei aller Freude, eines der Ziele erreicht zu haben: die Freilassung der einseitigen Anführerin der orangen Revolution. Doch die Vorbehalte gegen die Frau, die den Sieg damals im Streit mit Präsident Juschtschenko preisgab, sind mit Händen zu greifen.
„Timoschenko hat doch auch Verbindungen zu den Kriminellen. Sie sieht so ehrlich aus und macht doch so viele unkluge Dinge", sagt der Mann, der mit seiner Frau auf Timoschenkos Auftritt wartet. „Wissen sie", sagt sie, „wenn man in diesem Land lebt, geschieht es immer wieder, dass man dir gemein ins Gesicht lügt."
Ihre mentale Kraft ist ungebrochen
Doch wenn Julia Timoschenko erst einmal redet, wickelt sie die Massen um den Finger. „Meine Lieben, als ich in Kiew angekommen bin, habe ich es nicht wiedererkannt. Abgebrannte Autos, Barrikaden. Das ist eine andere Ukraine. Das ist die die Ukraine der freien Menschen. Ihr habt das jedem von uns geschenkt. Jedem, der heute lebt, jedem der morgen auf die Welt kommt. Ihr habt das Land beschenkt. Deshalb sind die Menschen, die auf dem Maidan waren, die hier starben, Helden für Jahrhunderte. Das sind unsere Befreier."
Timoschenko trug den geflochtenen Haarkranz, aber sie saß im Rollstuhl, mit einem dicken Anorak, das Gesicht aufgedunsen und faltenlos. Dennoch sieht sie durch die Krankheit um Jahre gealtert aus, die grazile Gasprinzessin bewegt sich wie eine betagte Frau, selbst wenn sie sitzt. Ihre mentale Kraft jedoch ist ungebrochen.
„Als ich nach Kiew kam, wollte ich zuerst auf die Gruschewski-Straße, die Steine berühren, die Barrikaden, wollte spüren, wie die Jungen und Mädchen sich hier fühlten, als sie als erste auf der Straße bereit waren, ihr Leben für unser Land zu geben. Das sind heilige Orte, die für unsere Inspiration, unsere Energie für immer entscheidend sein werden."
Timoschenko sagt den Menschen, was sie hören wollen
Bei Arseni Jazeniuk, Vitali Klitschko und Oleg Tjagnibok dürfte sich in den Stolz auf die erreichte Freilassung das ungute Gefühl mischen, dass die populistische Ex-Regierungschefin ihnen den Sieg abkauft. Sie will zwar nicht Ministerpräsidentin werden, jedenfalls nicht für die jetzt zu bildende Übergangsregierung, aber mit ihrer Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl müssen sie rechnen. Sie, die den Menschen jetzt sagt, was sie hören wollen, dass sie auf dem Maidan, die Garanten einer Umgestaltung der neuen Gesellschaft sind, macht sich ein paar Sätze weiter selbst dazu. Auch sie sei eine Garantin des kommenden Neuen.
„Ich werde vor allem ein Garant dafür sein, dass Euch niemand verrät. Ihr wisst, dass die Politik leider manchmal wie ein großes Theater ist. Ich werde Euer Garant dafür sein, dass ihr erfahrt, was hinter den Kulissen geschieht."
Als sie ankündigt, man müsse Janukowitsch und seinen Stab hierher, auf den Maidan bringen, ist die die Populistin, die sie früher war, endgültig zu Hause angekommen.