Mindestens 579 ukrainische Kinder haben nach Berechnungen von Unicef in den vergangenen zwei Jahren durch Kriegshandlungen ihr Leben verloren. Mehr als 1.200 wurden verletzt, mehr als 3,3 Millionen Kinder sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Viele haben darüber hinaus ihr Zuhause verloren, sorgen sich um Väter und Mütter, die als Soldatinnen und Soldaten an der Front kämpfen und trauern um Angehörige.
Zweijährige, die nicht mehr allein im Dunkeln sein können. Kinder, die Bilder malen, auf denen Kellern voller Blut zu sehen sind und Flugzeuge, die Bomben abwerfen - etwa 1,5 Millionen ukrainischer Kinder sind nach Einschätzung des Kinderhilfswerks Unicef von Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Problemen bedroht.
Selbst, wenn sie nach der Flucht in Sicherheit sind, etwa im benachbarten Rumänien, bräuchten viele der Kinder Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten, sagte Florian Westphal von der Hilfsorganisation "Save the Children" nach einem Besuch vor Ort. Diese Zeit müsse man ihnen geben.
Zerstörung von Bildungseinrichtungen
Zugang zu Bildung ist für viele ukrainische Kinder ein weiteres großes Problem. 3.800 Bildungseinrichtungen, darunter Kitas und Schulen, sind Unicef zufolge komplett oder teilweise zerstört. Etwa fünf Millionen Kinder und Jugendliche konnten gar nicht oder nur eingeschränkt zur Schule gehen. Das UN-Kinderhilfswerk geht davon aus, dass die Hälfte aller Kinder im Land nicht kontinuierlich am Unterricht teilnehmen kann.
Schulen dürfen nämlich nur dann besucht werden, wenn sie einen Schutzraum für Kinder bieten - bei Luftalarm werde in den Schutzräumen unterrichtet, sagte der Geschäftsführer Florian Westphal von "Save the Children". Bis zu 5.000 Stunden sollen Mädchen und Jungen vor allem in Frontgebieten in Bunkern, U-Bahnhöfen und Schutzkellern bereits verbracht haben – umgerechnet bis zu sieben Monate, meldet das UN-Kinderhilfswerk Unicef.
Unterricht im Schutzkeller
Bei Luftalarm gingen Schülerinnen und Lehrer geordnet und innerhalb von drei Minuten in den Schutzkeller, berichtet eine Lehrerin einer Kiewer Schule. Dort habe jede Klasse ihren eigenen Platz. Dann gehe der Unterricht weiter. Zwar lernten die Kinder mit mehr Motivation als vorher, erzählt eine Schulpsychologin. Doch die Konzentration lasse oft zu wünschen übrig – wegen des Stresses: „Sie vergessen mehr. Was sie gestern noch gut konnten, ist heute weg.“
In Charkiw wurde eine Schule in einer Metro-Station eingerichtet, berichtet Christian Schneider, Unicef-Geschäftsführer Deutschland, nach einem Besuch vor Ort. So wichtig Bildung sei, Zeit gemeinsam verbringen zu können, sei für die Kinder genauso wichtig.
Viele Kinder könnten nur online lernen. Die Hilfsorganisation Save the Children stelle ihnen digitale Lernzentren zur Verfügung, damit Schülerinnen und Schüler Zugang zum Internet und zu Endgeräten hätten, aber auch, um gemeinsam mit anderen zu lernen, selbst wenn es nur online sei, sagte Westphal.
Besonders gefährdet: Kinder in Frontnähe
Kinder, die nahe der Frontlinie lebten, haben es besonders schwer. Ihre Häuser seien zerstört, die Eltern ohne Einkommen, es sei nicht genug zu essen da. Diese Familien bräuchten Sachspenden und Bargeldhilfen, berichtet Westphal.
In den Wintermonaten hat das Kinderhilfswerk Unicef Orte, die teils nur 50 Kilometer von der Front entfernt seien, zudem mit Kleidung ausgestattet. Schulen und Krankenhäuser habe man mit Wärme versorgt, damit das Überleben gesichert sei und die Kinder auch dort ein kleines Stückchen Normalität erfahren könnten, sagte Christian Schneider von Unicef Deutschland.
Als besonders gefährdet gelten Rückkehrer: 630.000 Kinder befinden sich in extremer Not, nachdem sie nach der Flucht zusammen mit ihren Familien wieder in ihre ukrainische Heimat zurückgekehrt seien, berichtet das Hilfswerk Save the Children. "Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in extreme Not geraten, ist im Vergleich zur übrigen Bevölkerung um 62 Prozent höher."
Nach Russland verschleppte Kinder
Nach Angaben der SOS-Kinderdörfer sollen 19.000 ukrainische Kinder nach Russland verschleppt worden sein, davon seien bisher 388 zurückgekehrt. Doch über diese Zahlen herrscht Uneinigkeit. In Russland brüstet man sich damit, weit mehr Kinder aus der Ukraine „in Sicherheit“ gebracht zu haben, etwa 700.000 Kinder. Dort werden sie häufig zur Adoption freigegeben, erhalten neue Namen und die russische Staatsbürgerschaft. Die russische Kinderrechtsbeauftrage Lwowa-Belowa betont, es gehe den Kindern in Russland und in ihren neuen Familien gut.
Die Ukraine wirft Russland vor, Familien zu trennen und Kinder aus den von Russland kontrollierten Gebieten in der Ukraine nach Russland zu bringen, um sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Haftbefehl gegen Putin wegen Deportation ukrainischer Kinder
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat 2023 einen Haftbefehl gegen den russischen Präsident Putin und seine Kinderrechtsbeauftrage Maria Lwowa-Belowa erlassen. Beide seien mutmaßlich persönlich für die rechtswidrige Deportation ukrainischer Kinder verantwortlich.
Schon kurz vor der Invasion ab dem 18. Februar seien Kinder aus Waisenheimen in den Donezker und Lugansker Volksrepubliken nach Russland evakuiert worden, sagen Menschenrechtsexperten aus der Ukraine.
Immer häufiger wurden dann auch Kinder aus intakten Familien deportiert, vor allem im Zuge der Zwangsmobilisierung in den sogenannten Volksrepubliken. Dort wurde zurückgebliebenen Müttern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Neue Gesetze erlaubten das. 38.000 Fälle von Sorgerechtsentzug haben ukrainische Menschenrechtsaktivisten nach eigenen Angaben gezählt.
Zahlreiche Hilfsorganisationen und zuletzt Katar als Vermittler setzen sich für eine Rückkehr der nach Russland entführten Kinder ein. Das gestaltet sich oft schwierig, weil diese in Russland neue Namen und die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Menschrechtsaktivisten fordern, dass Russland jedes Kind zurückbringen müsse.
Perspektiven für die Jugend nach dem Krieg
Dass so viele Kinder schutzlos waren, habe auch mit der Struktur des Kinderbetreuungssystems in der Ukraine zu tun, schreibt Serhii Lukashov, Direktor der SOS Kinderdörfer in der Ukraine, in einem Pressestatement im Februar 2024. Etwa 100.000 Heimkinder habe es vor der russischen Invasion gegeben. 92 Prozent davon seien keine Waisen gewesen, ihren Eltern seien die Kinder von ukrainischen Behörden genommen worden, weil sie zu arm gewesen seien.
Drei Viertel dieser Kinder seien zu Kriegsbeginn von ihren Eltern nach Hause zurückgeholt worden, die anderen seien schutzlos zurückgeblieben, Betreuer seien teilweise geflohen und hätten die Kinder alleine gelassen – viele dieser Kindern wurden nach Russland deportiert. Lukashow geht davon aus, dass die Zahl der Waisen und bedürftigen Kinder aufgrund des Krieges weiter ansteigen wird und strebt eine umfassende Reform des Kinderbetreuungssystems in der Ukraine an.
Auch Christian Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland betont, dass Kinder und Jugendliche langfristige Perspektiven für ein Leben nach dem Krieg bräuchten: „Kinder und junge Menschen sind diejenigen, die die Zukunft des Landes gestalten werden und müssen“. Deshalb müssten die Angebote für Kinder in der Ukraine stabilisiert und ausgebaut werden.
tha