Fücks erklärte, dass die OSZE-Beobachter bei der Größe des Konfliktgebietes ohne Unterstützung aus der Luft relativ verloren seien. Man könne nicht vorhersagen, wo die nächsten Gefechte ausbrechen könnten, sagte Fücks von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung im Deutschlandfunk. "Es ist eine sehr labile Situation."
Neben weiteren OSZE-Beobachtern könnten auch Luftüberwachungssysteme zur Stabilisierung beitragen. Dabei sei auch Deutschland in der Pflicht: Deutschland habe sich schließlich sehr prominent um den Waffenstillstand bemüht. Jetzt sei es nur konsequent, dass man sich auch an der Überwachung beteilige. Die Ukrainer haben nach Ansicht von Fücks wenig Verständnis für das zurückhaltende Verhalten des Westens. Sie "haben das Gefühl, dass Europa nicht wirklich hinter ihnen steht." In der Gesellschaft wachse die Unruhe, da es trotz Waffenstillstands jeden Tag weitere Angriffe und Tote gebe.
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: 81 Soldaten und Zivilisten sind seit Anfang September im Osten der Ukraine getötet worden. 81 Soldaten und Zivilisten, obwohl Regierungstruppen und Separatisten eine Waffenruhe vereinbart haben und später auch noch eine Pufferzone von 30 Kilometern. Immer wieder werfen sich beide Seiten gegenseitig vor, sich nicht an die Verabredung zu halten. In Absprache mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der OSZE, hat Österreich jetzt zwei Aufklärungsdrohnen geliefert, um die Streitkräfte der Ukraine auf der einen und die Aufständischen auf der anderen Seite besser kontrollieren zu können. Zwei weitere Drohnen sollen folgen. Auch Frankreich und die Bundesregierung erwägen - wir haben das gerade im Gespräch mit unserem Korrespondenten in Berlin erwähnt -, die Waffenruhe mit eigenen Drohnen besser zu überprüfen. - Am Telefon ist Ralf Fücks, Vorstand der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, gerade zurück von einer Reise in den Osten der Ukraine. Guten Morgen, Herr Fücks.
Ralf Fücks: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Wir hören dieser Tage viel über Kämpfe, vor allem in Donezk, vor allem rund um den Flughafen dort. Sie waren anderswo unterwegs auf dieser Reise, von der Sie gerade zurückgekehrt sind: in Dnipropetrowsk, der drittgrößten Stadt der Ukraine, in Mariupol, der Industrie- und Hafenstadt am Schwarzen Meer, und auch in Charkow. Hält dort denn die Waffenruhe?
Fücks: Rund um Mariupol gibt es nach wie vor Artillerieangriffe auf Stützpunkte der ukrainischen Armee. Dnipropetrowsk selbst liegt ja nicht direkt an der Front, aber nahe bei, und auch dort spürt man immer noch diese Kriegsatmosphäre. Es sind etwa 18.000 Freiwillige aus der Region bei der ukrainischen Armee, 170 sind gefallen, mehr als 2000 sind verwundet worden. Wir haben mit Menschen gesprochen, deren Söhne oder Verwandte in der Armee sind. Da ist der Krieg sehr gegenwärtig.
Ukrainisch-russische Grenze: "Offen wie ein Scheunentor"
Barenberg: Und sehen die Menschen dort diese Waffenruhe, so brüchig sie auch im Moment ist, als einen ersten Schritt zu einer am Ende gewaltlosen politischen Lösung?
Fücks: Ich denke, alle sind froh, dass es jetzt eine Waffenruhe gibt. Allerdings ist die Skepsis groß, ob sie halten wird. Eigentlich niemand unserer Gesprächspartner ist davon ausgegangen, dass diese russische Intervention, der gewaltsame Zugriff auf die Ukraine schon zu Ende ist. Man spekuliert viel darüber, dass spätestens im nächsten Frühjahr eine neue Welle, eine militärische Offensive beginnen wird. Insofern muss alles getan werden, um diesen Waffenstillstand jetzt zu stabilisieren, und dazu gehört auch eine Überwachung der ukrainisch-russischen Grenze. Die ist nämlich offen wie ein Scheunentor und da kommen nach wie vor schwere Waffen, Raketenwerfer, Panzer und frische Soldaten, die in Russland trainiert und instruiert worden sind, über die Grenze. Dieser Teil der Minsker Vereinbarung, die zu dem Waffenstillstand führen sollte, ist bisher überhaupt nicht eingehalten und die OSZE, die mit Beobachtern schon vor Ort ist, traut sich nicht an die russisch-ukrainische Grenze, sondern sie ist jetzt nur dabei, die Demarkationslinie zwischen den bewaffneten Separatisten und der ukrainischen Armee zu kontrollieren.
Barenberg: Kann die OSZE nicht, oder will die OSZE nicht?
Fücks: Wir haben keine Sicherheitsgarantien für diese östlichen Regionen. Die Separatisten sind entweder nicht bereit oder in der Lage, sie zu geben, und die russische Regierung auch nicht. Ich halte das eher für ein ganz kühl inszeniertes Doppelspiel. Man friert auf der einen Seite die ukrainische Armee ein und auf der anderen Seite bleibt die Grenze offen, um die militärischen Positionen Russlands und seiner Verbündeten auszubauen.
Barenberg: Wenn wir jetzt lesen, dass die OSZE die Zahl ihrer Beobachter im Osten der Ukraine von derzeit rund 200 auf 500 aufstocken will, also mehr als verdoppeln will, welchen Einfluss, welche Wirkung kann das haben unter den Bedingungen, die Sie geschildert haben?
Fücks: In Kombination mit dem Einsatz von Luftüberwachungssystemen, also von Drohnen, könnte das tatsächlich zu einer Stabilisierung der Situation beitragen. Das ist ja ein riesiges Gebiet, eine riesige Grenze. Da sind 500 Beobachter relativ verloren, zumal man nicht weiß, wo es als nächstes losgehen wird, ob jetzt in Richtung Odessa, oder in Richtung Charkow, oder in Richtung Dnipropetrowsk neue Vorstöße stattfinden, ob man auch da versuchen wird, quasi einen Putsch zu inszenieren mit bewaffneten Kräften, die dort die Gebietsverwaltung und die Rathäuser besetzen. Es ist insgesamt doch eine sehr labile Situation und deshalb ist es umso wichtiger, dass die Europäische Union, die internationale Gemeinschaft sehr klar bleibt, dass sie es nicht akzeptieren wird, dass die Ukraine zerlegt wird, dass sie es nicht akzeptieren wird, dass mit militärischer Gewalt diese Unabhängigkeits- und Freiheitsbewegung, die mit dem Maidan begonnen hat, zurückgeworfen wird, und dazu gehört auch, dass die Sanktionen so lange in Kraft bleiben, wie Russland nicht sich zurückgezogen hat und die Waffenlieferungen in den Osten der Ukraine beendet hat.
"Ein Gefühl von Bitterkeit in der Zivilgesellschaft"
Barenberg: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Fücks, würden Sie sagen, Aufklärungsdrohnen auch aus Deutschland sind überfällig?
Fücks: Deutschland hat sich ja sehr prominent um diesen Waffenstillstand bemüht, und da ist es nur konsequent, dass wir uns auch an der Überwachung beteiligen.
Barenberg: Und haben Sie Verständnis dafür, dass in Deutschland geprüft wird und geprüft wird, seit Wochen schon, und es immer noch nicht klar wird oder klar ist, ob es ein solches Mandat geben wird, ob es einen solchen Einsatz geben wird, ob der Bundestag zustimmen muss oder nicht?
Fücks: Ich glaube, die Menschen vor Ort haben dafür sehr wenig Verständnis. Es gibt insgesamt doch ein Gefühl von Bitterkeit auch in der Zivilgesellschaft. Wir haben mit vielen Nichtregierungsorganisationen gesprochen, mit Hochschullehrern, mit Journalisten, auch mit Offiziellen, und die haben schon das Gefühl, dass Europa nicht wirklich hinter ihnen steht, und sie sagen uns, die Ukraine hat einen höheren Blutzoll errichtet als jede andere Nation für diese europäische Entscheidung, und jetzt erwarten wir, dass Europa sich auch zu uns bekennt.
"Jeden Tag sterben weiter Zivilisten und Soldaten"
Barenberg: Wie wichtig ist es, dass schnell jetzt etwas geschieht, mehr als es bisher geschehen ist? Der Präsident der Ukraine, Poroschenko, hat gerade gesagt, dass er seinen Friedensplan für den Osten des Landes in Gefahr sieht durch die zunehmenden Verstöße gegen die Waffenruhe im Konfliktgebiet im Osten des Landes.
Fücks: Ja, es wächst natürlich die Unruhe auch in der ukrainischen Gesellschaft, die sagen, offiziell besteht Waffenstillstand, und jeden Tag gibt es weitere Angriffe, ob in Donezk oder in anderen Gebieten auf Kontrollposten der ukrainischen Armee, jeden Tag sterben weiter Zivilisten und Soldaten, und entweder wir müssen auch wieder kämpfen, oder es muss von außen dieser Waffenstillstand mit garantiert werden. Im Grunde läuft das auf die Stationierung von Blauhelmen hinaus, obwohl darüber bisher noch niemand diskutiert. Aber die internationale Gemeinschaft muss sich engagieren, wenn sie verhindern will, dass der militärische Konflikt wieder eskaliert. Und die Frage, was aus dem Donbass wird, den Gebieten, die jetzt von der russischen Armee und ihren Verbündeten vor Ort kontrolliert werden, die ist ja noch völlig offen.
Barenberg: ...sagt Ralf Fücks. Es tut mir leid, wir müssen an dieser Stelle das Gespräch beenden. Ralf Fücks, der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, ich bedanke mich ganz herzlich.
Fücks: Ich bedanke mich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.