Im Zentrum von Slowjansk, hinter einer Kinderklinik, liegt ein Erdhügel - einen Meter hoch und fünf Meter breit. Er ist übersät mit Blumenkränzen, einer von ihnen in Herzform. Auf einer Bank sitzen zwei Jugendliche und rauchen. Alina, 14 Jahre alt und auffällig geschminkt, hat gehört, was es mit dem Hügel auf sich hat.
"Da liegen Unbekannte begraben, Brudergrab nennen wir es hier. Es stammt aus der Zeit der Donezker Volksrepublik."
Vom 12. April bis zum 5. Juli herrschten die prorussischen Separatisten in Slowjansk, sie machten die Stadt zur Hochburg ihrer "Volksrepublik". Mehrere tausend Kämpfer wohnten hier, viele von ihnen waren Russen, wie die Slowjansker erzählen. Doch schließlich hielten sie den Angriffen der ukrainischen Armee nicht mehr stand und flohen. Zurück ließen sie namenlose Gräber mit Dutzenden Toten - und eine arme, gespaltene Stadt, sagt Alina.
"Im Schulhof spielen die Zweitklässler ukrainische Armee und Aufständische, sie schießen sich gegenseitig ab - piff paff. Viele hier sind immer noch für Russland, glauben, mit Putin an der Spitze wäre alles besser. Aber was haben wir von den ganzen Kämpfen? Viele Häuser sind immer noch zerstört und die Rentner betteln auf der Straße um Brot."
Selbst die unmittelbaren Anwohner wissen nicht, was hier, hinter der Kinderklinik, geschehen ist. Aus einem dreistöckigen Backsteinbau kommt Hrihorij Ponomarjow, ein Rentner. Er hat gesehen, wie die ukrainischen Behörden hier 14 Körper aus der Erde holten. Einige von ihnen hätten die Separatisten zu Tode gefoltert, unter ihnen vier Angehörige einer protestantischen Gemeinde.
"Ich habe beobachtet, wie sie hier mit einem Traktor ein riesiges Grab ausgehoben haben. Sie haben die Leichen hineingeworfen, in Plastiksäcke gehüllt. Ein junges Paar, so 45 Jahre alt, ist auf sie zugegangen und hat gefragt, was vor sich geht. Da haben sie ihre Maschinengewehre auf sie gerichtet und gesagt: Haut ab, sonst seid ihr auch gleich dran. Sie wollten nicht beobachtet werden."
Über 3.600 Todesopfer
Schon über 3.600 Todesopfer hat der Konflikt in der Ostukraine gefordert, und das ist nur eine vorsichtige Schätzung der Vereinten Nationen. Eigentlich müsste die Ukraine in jedem einzelnen Fall ermitteln, die Täter feststellen und verurteilen. Schließlich herrscht offiziell kein Krieg in dem Land. Doch der Fall Slowjansk zeigt, wie schwierig das wird.
Zuständig für die Ermittlungen hier ist Valerij Radtschenko, der Polizeichef. In seinem Büro im ersten Stock prangt wieder die Ukraine-Flagge. "Wieder" - denn das Gebäude war eines der ersten, das die Separatisten besetzten - laut Radtschenko mithilfe einer russischen Spezialeinheit. Radtschenko war früher Polizeichef auf der Halbinsel Krim. Er weigerte sich, dort für die neuen, russischen Machthaber zu arbeiten. Nun soll er die Polizei in Slowjansk wieder aufbauen. Denn viele Uniformierte hier waren zu den Separatisten übergelaufen.
"Nach der Befreiung von Slowjansk haben 53 Polizisten ihren Dienst nicht mehr angetreten, wir haben sie deshalb entlassen. Manche sind in andere Teile der Ukraine gezogen, manche nach Russland. Von sechs von ihnen wissen wir sicher, dass sie sich den Separatisten angeschlossen haben."
Erste Aufgabe von Radtschenko war es, die Identität der namenlosen Leichen festzustellen. Unter ihnen waren nicht nur Gefangene der Separatisten, sondern auch gefallene Kämpfer, außerdem die Opfer der Artilleriegefechte - und diejenigen, die eines natürlichen Todes starben. Wenn die Leichen nicht mehr wiederzuerkennen waren, schickte die Polizei DNA-Proben ins Labor. Bis heute sind 38 Tote nicht identifiziert.
Noch schwerer ist es festzustellen, wie die Menschen ums Leben kamen. Die Spuren fehlen, und auch Zeugen fänden sich selten, so Polizeichef Radtschenko.
"Die Menschen haben immer noch Angst um ihr Leben - und schweigen deshalb lieber. Mit wem man auch spricht, dienstlich oder mit Bekannten, alle fragen: Kommen die Separatisten denn auch wirklich nicht zurück? Die Stadt ist noch nicht zur Ruhe gekommen. Das liegt auch daran, dass die Waffenruhe weiter im Osten nicht eingehalten wird."
So ist die Suche nach den Tätern in Slowjansk beinahe aussichtslos, zumal die meisten längst geflohen sein dürften. Trotzdem hat die Polizei bisher immerhin 22 Bürger festgenommen, die den Separatisten halfen. Verurteilt werden aber auch die meisten von ihnen nicht. Die Ukraine tauscht sie gegen Polizisten oder Geheimdienstmitarbeiter aus, die in der Hand der Separatisten sind.