Die Tatsachen sprächen für sich, sagte der Politologe Gerhard Simon von der Universität Köln: Russland liefere den Separatisten seit Wochen Material. Jetzt sei man dazu übergegangen, auch schwere Waffen, Panzer und Artillerie über die Grenze zu bringen.
Diese Eskalation der Kriegshandlungen sprenge alle bisherigen völkerrechtlichen Dimensionen. Das sei auch der Grund, warum man dieser Situation mit konventionellen Begriffen nicht beikomme - die Diplomatie laufe ins Leere. "Wir müssen versuchen, damit fertig zu werden," meinte Simon deshalb. "Wir können uns nicht auf das zurückziehen, was wir bisher kennen."
Dass Europa einen Einsatz von Soldaten bereits ausgeschlossen habe, sei unter Umständen ein psychologischer Fehler. Gleichzeitig sei aber auch klar, dass es in Europa keine Bereitschaft gebe, sich militärisch in der Ukraine zu engagieren. Dennoch könne Europa etwas tun. Er sei überzeugt, dass eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen Russland schade, besonders wenn die Finanzströme davon betroffen seien. Auch die Lieferung von Waffen und Material an die ukrainische Armee könne helfen, den Separatisten etwas entgegen zu setzen.
Strategisch geht Simon davon aus, dass Putin in der östlichen Ukraine "eine Art Niemandsland" errichten will. Damit könne man die Souveränität der Ukraine untergraben und habe eine Hebel, um das Land dauerhaft zu destabilisieren.
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Christine Heuer: Mehr als tausend russische Soldaten sind in der Ostukraine im Einsatz – das jedenfalls sagt die NATO. US-Medien berichten unter Berufung auf eine nicht namentlich zitierte britische Regierungsquelle sogar von vier- bis fünftausend russischen Soldaten in der Region – weitere 20.000 stünden an der Grenze zur Ukraine bereit. Moskau dementiert das alles oder doch fast alles, spricht davon, dass russische Soldaten bloß aus Versehen einmal in die Ukraine eingedrungen seien. Und das alles unter den Augen der Welt, die mittlerweile ja viele Bilder hat von russischen Truppen- und Waffenbewegungen in der Ukraine. Florian Kellermann über die aktuelle Lage.
In Mailand tagen derweil die Außenminister der Europäischen Union. Auch bei diesem Treffen, wie übrigens auch ab heute Nachmittag beim EU-Gipfel in Brüssel, geht es an erster Stelle um die Ukraine, darum, wie die EU auf die russische Aggression reagieren soll. Eine militärische Antwort schließt der Westen, schließen auch die Europäer bislang ja kategorisch aus, aber über weitere Sanktionen wird beraten. Annette Riedel in Mailand .
Und wir wollen diesen Bogen gleich weiter spannen mit Gerhard Simon. Er ist Politikwissenschaftler in Köln, Osteuropaexperte. Guten Tag, Herr Simon!
Gerhard Simon: Guten Tag!
Heuer: Ist das jetzt eine Invasion, ja oder nein? Wie bewerten Sie die Geschehnisse?
Simon: Na ja, das ist ein Krieg der Worte, und am Ende kommt es eigentlich auf die Worte nicht so sehr an, sondern auf die Sache selbst. Es kommt darauf an, richtig zu beschreiben, was dort passiert. Und es passiert eine Eskalation der Kriegshandlungen. Seit Wochen werden russisches Material und auch Kämpfer eingeschleust aus Rostow am Don in die Ukraine. Aber nicht ganze Truppenteile. Was wir jetzt erleben seit einigen Tagen, ist, dass ganze Truppenteile mit ihren schweren Waffen, Panzer und Artillerie über die Grenze gebracht werden und in der Ukraine tätig sind. Es ist am Ende, wie gesagt, nicht so furchtbar wichtig, ob man das Invasion nennt. Klar und was man eben sagen muss, ist, es handelt sich hier um eine Eskalation insofern nämlich, als jetzt ganze Truppenteile geschlossen im Kampf gegen die ukrainischen Streitkräfte eingesetzt werden.
Krieg neuen Typs
Heuer: Herr Simon, Sie sagen, das sei ein Krieg der Worte. Ob das eine Invasion genannt werden müsse, sei vielleicht nicht so wichtig. Aber ist das nicht auch eine völkerrechtliche Hausnummer, wenn man das Kind beim Namen nennt und tatsächlich von Invasion redet. Wir haben gerade gehört aus Mailand, dann müsste die Ukraine eigentlich das Kriegsrecht aussprechen, und das hat dann ja auch mögliche andere Weiterungen.
Simon: Richtig. Aber dieser ganze Krieg ist ein Krieg neuen Typs. Dieser Krieg wird von russischer Seite ja nicht so genannt und nicht so geführt. Und die Putin-Regierung macht das ja nicht zum ersten Mal. Auf der Krim im Frühjahr war es ja ganz ähnlich. Insofern ist es sehr schwer, mit unseren konventionellen Begrifflichkeiten dem beizukommen. Und das soll auch so sein, das ist auch beabsichtigt von russischer Seite. Es sollen Nebelkerzen gestreut werden, es soll der Sachverhalt verschleiert und er soll regelrecht geleugnet werden. Insofern ist es schwierig, von der anderen Seite, also von der ukrainischen Seite oder auch von der westlichen Seite zu verlangen, mit konventionellen völkerrechtlichen Begriffen zu operieren. Die sind in gewisser Hinsicht nicht anwendbar. Wir haben es hier mit einem Sachverhalt zu tun, der so, wie wir ihn da sehen, im Völkerrecht sozusagen nicht vorgesehen ist.
Und dem haben wir uns zu stellen. Und wir können eben auch nicht so ohne Weiteres beikommen dieser Situation mit unseren konventionellen Begriffen, das zeigt ja seit Wochen die Diplomatie. Die westliche Diplomatie, die amerikanische Diplomatie, die irgendwie ins Leere läuft. Und die russische Position oder Aktion ist so schlau, dass sie uns immer wieder ins Leere, oder Sie können auch sagen, in die Falle laufen lässt.
Wir müssen versuchen, damit fertig zu werden. Aber wir können der Sache nicht beikommen, wenn wir uns einfach zurückziehen auf das, was wir kennen. So, wie es immer früher gewesen ist. Zum Beispiel Invasion, und das hat völkerrechtliche Konsequenzen. Damit allein kommen wir nicht zurecht.
Westliches Europa ist nicht zu Militäreinsatz bereit
Heuer: Aber wie kommen wir denn zurecht? Der Westen schließt ja den Einsatz von Soldaten kategorisch aus. Ist das ein Fehler?
Simon: Es ist auf jeden Fall ein psychologischer Fehler, weil das natürlich den Russen signalisiert, na ja, die reden viel und schreien und drohen, aber am Ende sagen Sie uns ja auch, was sie nicht tun werden, nämlich militärisch wirklich eingreifen. Also insofern ist es taktisch wahrscheinlich falsch. Andererseits, von der Sache her, ist es wohl richtig. Denn unsere westlichen Öffentlichkeiten, die deutsche Öffentlichkeit, aber auch sonst im westlichen Europa, ist einfach nicht bereit, militärisch sich in der Ukraine zu engagieren. Insofern muss man das in einem demokratischen Staat sicherlich auch offen aussprechen. Aber unterhalb des militärischen Einsatzes gibt es noch eine große Fülle von Möglichkeiten. Da sind also einmal die Sanktionen, von denen wir ja gerade auch gesprochen haben, die deutlich noch verschärft werden können. Ob die was bringen, wissen wir nicht. Aber das Argument, na ja, die Sanktionen bringen ja gar nichts, dem würde ich also auch widersprechen.
Sanktionen am Finanzmarkt sind effektiv
Heuer: Welche Sanktionen bringen denn was, Herr Simon? Was müsste der Westen jetzt beschließen?
Simon: Zum Beispiel die Unterbrechung der Finanzströme, von denen jetzt noch die Korrespondentin gesprochen hat. Wenn Russland keine Geschäfte mehr in London, am Finanzplatz London machen könnte, wäre das sicherlich eine gewaltige Einschränkung. Nicht, dass Russland deswegen in die Knie geht, und ich behaupte auch nicht, und niemand darf und kann behaupten, Putin würde dann morgen eine andere Politik machen. Aber ich meine, dieses Argument, die Sanktionen bringen nichts, ist insofern schwierig zu verifizieren – wir wissen ja nicht, was passiert wäre, wenn es keine Sanktionen gäbe. Also, die russische Wirtschaft ist schon, und das sagen sie ja auch selbst immer wieder, nimmt Schaden auch durch das, was bisher an Sanktionen verhängt worden ist. Bei schärferen Sanktionen wird das noch mehr sein.
Eine andere Möglichkeit, die auch unterhalb des Einsatzes von eigenen Soldaten liegt, wäre der Verkauf oder die Lieferung von Waffen an die ukrainische Armee. Das fordern und erwarten und darum bitten die Ukrainer. Bisher ist aber niemand bereit, dem entgegenzukommen.
Waffenlieferung an Ukraine überlegenswert
Heuer: Und Sie wären dafür, tatsächlich Waffen an die Ukrainer zu liefern? Nach den Irakern auch den Ukrainern?
Simon: Das ist zu überlegen, ja. Das ist zu überlegen, und es gibt also auch von amerikanischer Seite ein positives Signal. Die Frage ist natürlich auch, was für Waffen man liefern soll. Wir haben aber im Moment, wenn ich es recht sehe, die militärische Situation, dass die ukrainischen Streitkräfte auch technisch, sozusagen militärisch, nicht in der Lage sind, dieser neuen Eskalation von russischer Seite etwas entgegenzusetzen. Die kommen da mit Panzern und moderner Artillerie, und auf ukrainischer Seite sind die noch mit alten Kalaschnikows ausgerüstet.
Wiedererrichtung der UdSSR ist ausgeschlossen
Heuer: Putin denkt offenbar sehr gerne nach über die Wiedererrichtung eines wie auch immer gearteten russischen Reichs. Welche Staaten sind da als nächstes bedroht, Herr Simon?
Simon: Na ja, zunächst einmal die Ukraine selbstverständlich. Die Wiedererrichtung einer Sowjetunion ist ausgeschlossen, aber ich finde auch, Sie haben es angesprochen – ich glaube, das Nahziel, was jetzt die Ukraine angeht, das Nahziel heißt: In der östlichen Ukraine, dort, wo jetzt seit Monaten der Krieg tobt, muss eine Art Niemandsland errichtet werden, so ähnlich wie Transnistrien.
Das heißt, die russische Politik in der kurzfristigen Perspektive, so unterstelle ich, ist darauf gerichtet, dass in der östlichen Ukraine nicht wieder nur Kiew das Sagen hat. Die Souveränität des ukrainischen Staates soll begrenzt sein, und es soll dort ein Streifen Niemandsland eingerichtet werden, der einerseits offiziell zur Ukraine noch gehört, aber wo tatsächlich Russland das Sagen hat. So ein eingefrorener Konflikt, auf die Dauer, hätte aus russischer Sicht enorme Vorteile, weil von dort aus auf Dauer ein Hebel gegeben wäre, um die Ukraine militärisch, ökonomisch, politisch zu destabilisieren.
Heuer: Gerhard Simon, Politologe, Osteuropaexperte – ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Simon!
Simon: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.