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Ukraine-Konflikt
"Entweder-oder-Lösung ist falsch"

Eine Teilung der Ukraine wäre wirtschaftlich eine Katastrophe, sagte Rainer Lindner vom Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft im DLF. Vordringliches Ziel sei die politische Lösung des Konflikts, sagte er mit Blick auf den Besuch der Kanzlerin in Kiew.

Rainer Lindner im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Container werden im Hafen von Wladiwostok verladen.
    Was bedeutet die Entwicklung für die deutsche Wirtschaft? (dpa / Vitaliy Ankov)
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) reist heute nach Kiew. Sie kommt in ein vom Krieg ausgezehrtes Land. Ihr Besuch weckt hohe Erwartungen: "Die Reise hat einen hohen Stellenwert", sagte Rainer Lindner vom Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft im DLF.
    Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine sei katastrophal und in den umkämpften Gebieten des Ostens besonders belastet. "Dort wird unter anderem Kohle gewonnen. Die Ukraine wird in den nächsten Tagen erstmals seit Jahrzehnten Kohle importieren müssen", sagte Lindner.
    Man hoffe aber, dass sich die Ukraine wirtschaftlich erhole. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: "Die Handelszahlen alleine mit Deutschland liegen im ersten Halbjahr bei minus 24 Prozent. Das ist natürlich dramatisch. Das Bruttoinlandsprodukt bei minus fünf Prozent – also negatives Wachstum", so Lindner.
    Hinzu komme noch ein wirkliches strukturelles Problem. "Das Schwerindustriezentrum des Ostens – das doppelte Ruhrgebiet – braucht dringend Maßnahmen eines Strukturwandels", so Lindner.
    "Das vordringliche Ziel ist eine politische Lösung des Konflikts, erst dann lassen sich die wirtschaftlichen Probleme lösen", so Lindner. Auch die Korruption in der Ukraine müsse bekämpft werden und die nötigen Reformschritte durchgeführt werden.
    Um wirtschaftlich zu überleben, müsse Ukraine weiter mit Europa und auch Russland Handel treiben, sagte Lindner im DLF. Eine Entweder-oder-Lösung könne es nicht geben. Die Mittellage der Ukraine müsse zum Vorteil genutzt werden.

    Jürgen Zurheide: Bundeskanzlerin Merkel reist heute in die Ukraine Sie kommt in ein vom Krieg ausgezehrtes Land, wo die wirtschaftliche Lage für die Menschen offensichtlich immer schwieriger wird. Das weckt hohe Erwartungen. Ob sie die erfüllen kann? Nun ja, das wird schwierig werden: Einmal sicherlich die politischen Erwartungen als Symbol gerade vor dem Einigkeitsfeiertag, allerdings dann auch in wirtschaftlicher Hinsicht – was wird da eigentlich von der Kanzlerin erwartet und vor allen Dingen wie ist die Lage in der Ukraine? Darüber wollen wir reden mit Rainer Lindner vom Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft. Zunächst einmal guten Morgen, Herr Lindner!
    Rainer Lindner: Guten Morgen!
    Zurheide: Herr Lindner, die wirtschaftliche Lage, ganz offen gefragt, ich sage es mit einem Wort: katastrophal. Was fügen Sie hinzu?
    Lindner: Katastrophal und natürlich auch in den umkämpften Gebieten insbesondere belastet, weil dort natürlich in den Schwerindustriezentren des Ostens unter anderem Kohle gewonnen wird. Die Ukraine wird in den nächsten Tagen erstmals seit Jahrzehnten Kohle importieren müssen. So ist die Lage: ganz schwierig.
    Zurheide: Das heißt, in einem Land, wo ohnehin das Leistungsbilanzdefizit – das ist jetzt eine technische Größe – bei sieben Prozent der wirtschaftlichen Leistung liegt, das wird dann möglicherweise noch steigen, und die Frage taucht auf: Wer finanziert das alles? Wir?
    Negatives Wirtschaftswachstum
    Lindner: Zunächst nicht. Zunächst hofft man natürlich, dass die Ukraine sich wirtschaftlich erholt, die Handelszahlen allein mit Deutschland sprechen allerdings vorläufig eine andere Sprache, minus 24 Prozent im ersten Halbjahr, das ist natürlich dramatisch, das Bruttoinlandsprodukt im Minus bei 5 Prozent, also negatives Wachstum. Ein wirkliches strukturelles Problem kommt hinzu: Das schon erwähnte Schwerindustriezentrum des Ostens – das ist das doppelte Ruhrgebiet, wenn Sie so wollen – braucht dringend Maßnahmen eines Strukturwandels, die ohnehin auch getroffen werden müssten. Und dort sind natürlich jetzt die Kampfhandlungen insbesondere sehr stark. Das heißt, vor der ukrainischen Regierung, auch vor der künftigen, liegen massive Aufgaben der wirtschaftlichen Stabilisierung, der Anpassung der Wirtschaft an die modernen Technologien und natürlich auch, neue Exportnationen zu finden.
    Zurheide: Jetzt haben Sie ja gerade schon angesprochen den Vergleich zum Ruhrgebiet. Wir alle wissen: Trotz vieler Hilfen ist die Lage dort auch in Deutschland immer noch schwierig – aber da hat es Hilfen gegeben, da gibt es Strukturen, die funktionieren. Das alles ist in der Ukraine im Moment nicht der Fall, Stichwort Energiepreise zum Beispiel, auch die steigen, die mussten steigen. Das belastet wiederum die Bevölkerung. Wie kann man da einen Ausweg finden?
    Konflikt muss politisch gelöst werden
    Lindner: Also das ganz vordringliche Ziel ist natürlich eine politische Lösung dieses Konflikts, erst dann lässt sich letztlich wieder über wirtschaftliche Reformen sprechen, die irgendwie auch umgesetzt werden können. Natürlich liegen große Hoffnungen jetzt auf dieser Reise der Bundeskanzlerin und auf den Gesprächen kommende Woche in Minsk, wo womöglich ein Treffen mit Putin zustande kommt. Also die Konfliktlösung ist das erste, ganz wichtige Ziel, als Nächstes sicherlich die Bekämpfung der Korruption, eines der größten Probleme in der ukrainischen Regierung – zuletzt ist die neue Korruptionsbeauftragte erneut zurückgetreten, also bisher sind die Probleme noch nicht gelöst –, und dann natürlich die Reformschritte. Sie erwähnten die Energiepreise: Natürlich hängen die vom Verhältnis von Russland ab, da ist Russland vorläufig am längeren Hebel und hat massive Energiepreise gegenüber der Ukraine, insbesondere beim Gas, erhoben. Auch die sind sozusagen politisiert, das muss man nach Möglichkeit im Zuge einer politischen Lösung mit einbeziehen. Und schließlich eben das, was ich als Strukturwandel und Reformprozess bezeichnet habe: Hier geht es um Energieeffizienzmaßnahmen, da geht es um die Monostädte – es gibt zahlreiche Städte, die an einem Unternehmen hängen. Es gibt viele strukturelle Probleme in diesem Land, die unabhängig von diesem Krieg gelöst werden müssen, und hier ist zunächst die politische Lösung an vorderster Stelle.
    Zurheide: Die Frage ist ja auch: Wie kann das Land überleben, das eingewoben war auch in einem starken Handel zum Beispiel mit Russland? Das alles hat man ja auch aufs Spiel gesetzt. Hat die aktuelle Führung versucht, zu schnell auf den Westen zu setzen, wo man eigentlich eine Mittlerrolle ja zwischen Ost und West braucht? Das ist ja ein Land genau in der Mitte. Oder ist die Analyse falsch?
    Lindner: Die ist richtig. Das ist ein Land, was sowohl mit der Europäischen Union, aber eben auch mit Russland und den Ländern in der postsowjetischen Welt Handel treibt und dies auch weiter tun wird und tun muss, wenn es wirtschaftlich überleben möchte. Das heißt, eine Entweder-oder-Lösung war immer verkehrt. Die jetzige Freihandelsanbindung an die Europäische Union ist richtig, wir brauchen aber gleichzeitig eine Perspektive, eine Freihandelsperspektive mit der Eurasischen Union. Insofern: Diese Mittellage der Ukraine muss zum Vorteil genutzt werden und darf nicht in eine Art Nachteilsituation überführt werden. Die vielen deutschen Unternehmen im Land, etwa 500, sorgen sich natürlich um diese Perspektive der Ukraine als Produktionsstandort, auch als Exportmöglichkeit, als Markt. Und hier sind eben diese handelspolitischen Fragen in einer Perspektive zu lösen. Die Ukraine und wir sagen als Ostausschuss übrigens auch Russland muss in der Perspektive in einer Freihandelsanbindung mit der Europäischen Union eingebunden sein. Erst dann kann handelspolitisch, aber auch wirtschaftspolitisch in dieser Region eine Zukunft gestaltet werden.
    Teilung wäre wirtschaftlich eine Katastrophe
    Zurheide: Sagen Sie das konkret: Wo ist die wirtschaftliche Rolle der Ukraine? Was können die, und wie können sie in der internationalen Arbeitsteilung zwischen Ost und West ja ihren Platz finden?
    Lindner: Es gibt ja den inzwischen leider nur auch als Mythos zu bezeichnenden Begriff der Kornkammer Europas, eine wichtige landwirtschaftliche Möglichkeit hat die Ukraine, gehörte zu den großen Weizenexporteuren der Welt in den letzten Jahren. Das muss man weiter fördern. Da gibt es auch Effizienzsteigerungen und Modernisierungsanforderungen, die hier getroffen werden müssen. Stahlproduktion: Bestimmte hochqualitative Stähle hat Russland sogar aus der Ukraine bezogen, weil man es dort nicht herzustellen vermag. Maschinenbau, Flugzeugbau: Da gibt es wirklich auch einzelne Unternehmen, die in der Ukraine auch im Weltmaßstab durchaus konkurrenzfähig sind. Die Antonow-Werke beispielsweise haben diese Position lange Zeit gehabt. Hier lohnt sich eine Investition, hier lohnen sich auch Modernisierungsmaßnahmen. Insofern: Auch die regionale Verteilung – der Westen stärker agrarwirtschaftlich geprägt, der Osten, wo eben gerade gekämpft wird, die Schwerindustrie – das kann ohne einander nicht funktionieren. Deswegen: Eine Teilung des Landes oder eine Abspaltung des Ostens wäre wirtschaftspolitisch eine Katastrophe und eigentlich nicht darstellbar. Hier braucht es eine Lösung und es braucht Strukturmaßnahmen und Modernisierungsmaßnahmen.
    Zurheide: Was sagen Sie eigentlich Unternehmen oder Unternehmern, die geradezu hinkommen und aktuelle Probleme haben? Ihr müsst durchhalten? Wie halten die das eigentlich durch aktuell?
    Wachstumsmarkt für die deutsche Wirtschaft
    Lindner: Wir haben bisher nur sehr wenige Fälle registriert, wo sich Unternehmen wirklich zurückziehen aus diesem Land. Man ist derzeit in einer Abwarteposition. Man hofft auf eine Stabilisierung, immerhin: Ein Markt mit 45 Millionen Menschen, ein Wachstumsmarkt ist in Europa sonst nicht so sehr schnell wieder zu finden. Das heißt, hier wird von den meisten Unternehmen natürlich jetzt gehofft, dass es eine politische Lösung gibt und dass man seine Möglichkeiten wieder ausschöpfen kann. Es ist ja die gesamte Bandbreite der deutschen Wirtschaft hier vertreten, die Landtechnikhersteller, die Händler, die Bauunternehmen, Technologieunternehmen, sie sind alle da und sie sehen dort auch Möglichkeiten – aber eben im Moment in einem Land, das a) vom Konflikt um den Osten geprägt ist, b) von Korruption nach wie vor betroffen ist und c) noch immer die Reformagenda nicht grundsätzlich angegangen ist. Insofern hoffen wir – und das sagt der Ostausschuss seit vielen Wochen – auf eben diese politische Lösung, die jetzt erzielt werden muss und wo die Ukraine am Ende doch als ein Land dasteht, was auch für uns als deutsche Wirtschaft ein interessanter Standort bleibt.
    Zurheide: Aber ich fasse das noch mal politisch zusammen: Sie sagen, das Land muss auch verstehen, dass es wirklich die Brückenfunktion zwischen Ost und West hat, das heißt, man kann sich weder einseitig nur auf den Westen, geschweige denn auf den Osten kaprizieren, also auf Russland kaprizieren. Sie müssen diese Mittlerfunktion einnehmen.
    Cut mit Russland ist eine Illusion
    Lindner: Das ist diese Lage, von der die Ukraine am meisten profitieren würde. Es gibt inzwischen Stimmen in der ukrainischen Regierung, die einen völligen Cut mit der Russischen Föderation handelspolitisch fordern. Ich glaube, das ist eine Illusion, insbesondere, so lange man energieseitig noch abhängt von Russland, und das wird auf weitere Sicht der Fall sein. Insofern sollten eher die Chancen gesehen werden. Das ist natürlich in einem Kriegszustand schwer genug. Insofern wird über diese Möglichkeiten erst nach Beendigung der Kampfhandlungen zu reden sein, um die Handelsperspektiven wieder zu entwickeln. Die Reise der Bundeskanzlerin – ich komme zurück – heute hat insofern einen hohen Stellenwert. Man erhofft sich hier auch ein starkes Signal an Russland, das doch auf diese Weise erkennt, dass die Bundesregierung die Ukraine an einem solch symbolträchtigen Tag auch sehr stark stützen möchte. Und insofern hofft man eben auch, dass Russland jetzt zum Einlenken bereit ist und die Ukraine, beide Seiten an einen Verhandlungstisch zurückkehren, um diese Lösung herbeizuführen.
    Zurheide: Die schwierige wirtschaftliche Lage erfordert, dass es eine Lösung in der Ukraine gibt, zum Wohl der Menschen. Was dahintersteht und was die einzelnen Probleme sind, hat uns Rainer Lindner geschildert vom Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft. Herr Lindner, ich bedanke mich für das Gespräch. Auf Wiederhören!
    Lindner: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.