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Ukraine-Konflikt
"Putin hat eine Nebelkerze geworfen"

Putin habe gezeigt, dass er sich nicht an Vereinbarungen hält, sagte "Focus"-Redakteur Boris Reitschuster im DLF. Er habe mit dem Friedensangebot eine Nebelkerze geworfen, gleichzeitig betreibe er weiterhin Krieg - eine gefährliche Entwicklung für den Westen.

Boris Reitschuster im Gespräch mit Christine Heuer |
    Die Schatten von drei Soldaten im Krieg, die Waffen in den Händen halten.
    Ukrainische Soldaten im Krieg (AFP / Anatoliy Boyko)
    Das kurzfristige Ziel Putins sei es, die Ostukraine unter seine Kontrolle zu bekommen, weil er die Waffenfabriken und den Landweg zur Krim benötige, so Reitschuster. Sein längerfristiges Ziel sei eine Kontrolle über den postsowjetischen Raum. Reitschuster fürchte, dass Putin weiter mache mit der militärischen Politik und mit der Aggression, wenn er jetzt damit durchkomme, dass er die Krim und die Ostukraine bekomme.
    Die Russen übten in ihren Manövern bereits eine Intervention auf dem Baltikum. Was würde passieren, wenn Russland morgen sage, in Estland sei ein Gebiet, in dem die Russen unterdrückt würden, fragt sich der Journalist.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Christine Heuer: Am Telefon ist Boris Reitschuster, Leiter des Moskauer "Focus"-Büros, Autor des Buchs "Putins Demokratur: Wie der Kreml den Westen das Fürchten lehrt". Wir erreichen ihn in der Nähe von München, denn Moskau hat der ausgewiesene Kreml-Kritiker nach mehreren Verhaftungen 2011 verlassen müssen. Guten Tag, Herr Reitschuster.
    Boris Reitschuster: Guten Tag.
    Heuer: Nun ist also plötzlich die Rede von Frieden. Selbst wenn es dazu kommt, was wäre eine solche Vereinbarung wert?
    Reitschuster: Ich denke, Wladimir Putin hat gezeigt, dass er sich nicht an Vereinbarungen hält. Allein schon der Anschluss der Krim ist ein eklatanter Verstoß gegen das Budapester Abkommen. Meine große Befürchtung ist, selbst wenn er etwas unterzeichnet, dass er sich daran nicht hält.
    Heuer: Warum lenkt Petro Poroschenko dann ein? Der muss das doch auch wissen.
    Reitschuster: Ich denke, er weiß das sehr gut. Meine Interpretation ist, dass die Lage bei ihm verzweifelt ist. Gegen diese enorme militärische Übermacht, gegen die russische Militärmaschinerie, die hier unter Tarnkappe im Vorrücken ist, hat die Ukraine keine Chance.
    Heuer: Hat Putin dann alles bekommen, was er wollte?
    Reitschuster: Im Moment sieht es sehr stark danach aus. Er hat eine Nebelkerze geworfen mit diesem Friedensangebot. Gleichzeitig betreibt er weiter den Krieg, eine ganz, ganz gefährliche Taktik für uns, für den Westen.
    Heuer: Und was ist sein Ziel dabei?
    Reitschuster: Ich denke, sein kurzfristiges Ziel ist, die Ostukraine unter seine Kontrolle zu bekommen, weil dort die wichtigen Waffenfabriken sind, die er für sein Rüstungsprogramm braucht, und weil er einen Landzugang zur Krim will. Das längerfristige Ziel ist eine Kontrolle über den postsowjetischen Raum, über die früheren Sowjetrepubliken.
    Heuer: Und was heißt denn das konkret?
    Reitschuster: Das heißt konkret, dass ich fürchte, dass er weitermachen wird mit dieser militärischen Politik, mit der Aggression. Wenn er jetzt die Lektion erhält, dass er damit durchkommt, dass er die Krim behalten kann, wenn er jetzt auch die Ostukraine unter Kontrolle bekommt, dann fordert ihn doch das geradezu heraus, noch weiterzugehen und die Gunst der Stunde zu nutzen. Das ist meine große, große Angst.
    Heuer: Das Seltsame, Herr Reitschuster, im Moment ist ja, dass die NATO, na ja, mit den Säbeln rasselt, sagen wir es mal so, deutliche Signale Richtung Moskau sendet. Und dass auf der anderen Seite zeitgleich Poroschenko, Kiew in Minsk zu einem Frieden unter diesen Bedingungen bereit scheint. Da geht ja eine richtige Schere auf.
    Reitschuster: Säbelrasseln würde ich nicht sagen. Bei Wladimir Putin rasseln die Panzerketten und der Westen rührt sich jetzt einmal ein bisschen. Ich denke, das ist eine Doppeltaktik. Man will auf der einen Seite so etwas wie eine leichte Drohkulisse schaffen, um damit Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen. Aber wie wollen Sie mit ihm verhandeln, wenn er offiziell sagt, er hat überhaupt keinen Einfluss auf diese Leute? Das ist die offizielle Position. Anders herum sagt er wieder, es kann in zwei Tagen Frieden geben. Das passt hinten und vorne nicht zueinander. Es ist eine ganz vertrackte Situation und ein verzweifelter Versuch jetzt der Ukrainer, hier doch noch etwas zu bewegen.
    Heuer: Und die NATO beschließt, ihre Präsenz in Osteuropa zu verstärken. Ist das das richtige Signal? Wird das Putin beeindrucken?
    Reitschuster: Beeindrucken ist zu viel gesagt. Aber er ist in der Straße aufgewachsen. Er hat gesagt, in seiner Jugend hat er gelernt, dass nur der Starke Recht hat, dass der Schwache getreten wird. Und wenn wir jetzt nicht Stärke zeigen, passive Stärke, dann, denke ich, dann wird das bei Putin, der immer noch ein bisschen dieser Straßenjunge geblieben ist, ankommen als Zeichen der Schwäche und die Schwachen werden getreten. Von daher müssen wir leider Stärke zeigen.
    Heuer: Und wird das zum Erfolg führen?
    Reitschuster: Ich hoffe es sehr. Meine große Sorge ist, dass unsere Politiker nicht geschlossen genug agieren. Wir bräuchten etwas mehr Kennedy im Moment und wir sind sehr zögerlich entschlossen. Wir haben schon viel verpasst. Deswegen man hätte viel früher Stärke zeigen sollen. Ich bin etwas skeptisch, dass es zum Erfolg führt, aber ich hoffe. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
    Heuer: Haben Sie nicht manchmal dann auch Angst, Herr Reitschuster, dass das alles in einen Krieg münden kann, an dem dann eben nicht nur Russland und die Ukraine beteiligt sind, sondern am Ende tatsächlich auch NATO-Staaten?
    Reitschuster: Das ist meine große Angst. Ich hätte es vor einigen Monaten noch ausgeschlossen, aber ich denke, Obama hat diese Angst auch. Darum war er in Estland. Die Russen üben in ihren Manövern schon einen militärischen Einsatz im Baltikum, Drohkulisse oder nicht. Aber was passiert, wenn sie morgen sagen, Estland ist ein Gebiet, in dem die Russen unterdrückt werden, wir müssen sie verteidigen? Dann sind wir in Teufelsküche! Dann möchte ich nicht vor dieser Wahl stehen, entweder man nimmt es hin, dann ist die NATO das Papier nicht mehr wert, auf dem sie geschrieben ist; umgekehrt: Man kann auch nicht militärisch agieren. Gott bewahre uns vor so einem Szenario.
    Heuer: Und Sie glauben, dass Putin durchaus gewillt ist, strategisch ungefähr so im Baltikum vorzugehen, wie er es im Moment mit der Ukraine vorführt?
    Reitschuster: Ich denke, das hängt ganz eindeutig von der Reaktion des Westens ab. Wenn man sich hier etwas verhält wie Kennedy, wenn man, so schwierig es ist, mit viel Geschick, aber auch mit viel Härte versucht, klare Linien einzusetzen, dann, denke ich, ist er derjenige, der eine wirkliche Eskalation nicht zulassen würde. Er geht immer so weit, wie man ihn lässt. Er sucht seine Grenzen, würde ich sagen, um in dem Bild vom Hofjungen, vom Straßenkind zu bleiben.
    Heuer: Heute Nachmittag – und das ist ja die andere Strategie der Europäer – will die Europäische Union neue Sanktionen, neue schärfere Sanktionen gegen Russland beschließen, vor allen Dingen auf dem Finanzsektor. Tut das Russland tatsächlich weh?
    Reitschuster: Es tut Russland ganz stark weh. Und zwar ist es so, dass jetzt schon die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, weil die Preise gestiegen sind. Und es gibt Umfragen: Die meisten Russen wollen nicht für die Krim auf irgendetwas verzichten. Der Geldbeutel ist ihnen näher als der Patriotismus. Und das ist für Putin ganz, ganz gefährlich, wenn hier in der Bevölkerung diese Unzufriedenheit wächst. Und noch mehr, wenn sie in seinem Umfeld wächst. Die Oligarchen, die brauchen alle gute Beziehungen zum Westen.
    Heuer: Und die sind jetzt sauer?
    Reitschuster: Die Oligarchen sind sauer. Das ist ganz eindeutig so. Und ich denke, das ist der Grund, warum Putin so sehr auf das Volk setzt, auf diese Kriegsstimmung, auf diesen Hurra-Patriotismus. Das ist seine Lebensversicherung gegen die Oligarchen, weil solange er beim Volk so beliebt ist, ist eine Palastrevolte natürlich schwierig.
    Heuer: Und Sie halten so was für möglich, dass die Oligarchen tatsächlich so etwas wie eine Palastrevolte proben würden?
    Reitschuster: In der momentanen Situation eher nicht. Dazu sitzt er im Moment zu stark im Sattel. Wenn er aber anfängt, zu wackeln, dann kann das sehr schnell gehen. Es ist keine echte Stabilität, es ist eine starre Stabilität, wie wir sie in der DDR hatten. Denken Sie an Chruschtschow, der ist auch über die Krim gestolpert.
    Heuer: Was kann Putin denn zum Wackeln bringen?
    Reitschuster: Ich denke, was ihn zum Wackeln bringt, ist zum einen der Widerstand im Inland, wenn die Sanktionen sich wirklich bemerkbar machen bei der Bevölkerung und bei den Oligarchen. Und zum Zweiten, wenn er seine vielen Versprechungen nicht wahrmachen kann. Er hat enorme Stimmungen, Hurra-Patriotismus geweckt. Und er ist jetzt enorm in der Zwickmühle. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Westen, Bevölkerung und Oligarchen, ein ganz gefährlicher Drahtseilakt. Und da kann er schnell aus dem Gleichgewicht geraten.
    Heuer: Die Schlüsselfigur in der EU ist Angela Merkel, Herr Reitschuster, kurz zum Schluss. Glauben Sie, die ist aus einem Material, mit dem Putin nicht mehr umgehen kann? Will sagen, Merkel setzt vielleicht tatsächlich eine Strategie durch, mit der man Putin in seine Grenzen verweisen kann?
    Reitschuster: Merkel ist ein großer Glücksfall. In meinen Augen ist sie die einzige westliche Staatsfrau, die Putin durchschaut, weil sie in der DDR aufgewachsen ist, weil sie das System kennt. Viele andere waren lange Zeit viel zu naiv. Umgekehrt ist sie natürlich jemand, der sehr stark zum Aussitzen neigt. Das ist die negativere Seite. Aber ich denke, sie hat jetzt auch verstanden, dass man hier nicht mehr viel aussitzen kann. Und mit ihrem Verständnis von Putin und auch mit dem Draht, den sie noch hat, ist sie die Einzige in meinen Augen, die eine Chance hat, auch weil Putin sie genau deshalb achtet.
    Heuer: Boris Reitschuster, Putin-Biograf, "Focus"-Journalist, Kreml-Kritiker, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Reitschuster.
    Reitschuster: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.