Nach Ansicht von Ischinger ist die Intervention von Merkel und Hollande vielleicht der letzte Versuch, eine diplomatische Lösung in Form des Minsker Abkommens doch noch auf den Weg zu bringen. Ischinger betonte die Bedeutung der Vereinbarung. Nur wenn diese im Prinzip bestätigt werde, könne der ukrainische Präsident Petro Poroschenko dies auch der Bevölkerung präsentieren, sagte der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, die heute beginnt.
Ischinger hält es für möglich, das Abkommen um weitere Aktualisierungen, etwa in Form eines kleinen Protokolls oder einer anderen Anpassung, zu erweitern. Sollte die Ukraine bereit für weitere Konzessionen an die Separatisten sein, so müsse sie aber auch Gegenleistungen oder eine Garantie erhalten, dass die schweren Waffen abgezogen werden.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Gestern sind Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Hollande überraschend zu einer neuen Friedensinitiative für den Osten der Ukraine aufgebrochen. Gibt es eine Chance auf Frieden für die Krisenregion? Das ist wohl auch das bestimmende Thema ab heute auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Aber in Zeiten von Krieg in Syrien und im Irak und in Zeiten des IS-Terrors wäre das einzige noch das bedrückendste. Am Nachmittag beginnt das Treffen in München.
Mitgehört hat Wolfgang Ischinger, der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz. Er ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!
Wolfgang Ischinger: Guten Morgen.
Schulz: Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Hollande sind heute ja bei Putin in Moskau. Wird der Friedensplan, den sie mutmaßlich im Gepäck haben, ihn denn dazu bringen, diese, wie Sie sagen, tausend Kilometer hermetisch abzuschließen, also die russisch-ukrainische Grenze, um die Versorgung der prorussischen Separatisten aus Russland zu stoppen?
Ischinger: Hoffen wir's mal. Ich bin persönlich beeindruckt von der Courage der beiden Chefs, also Frau Merkel und Francois Hollande, denn wenn sie, was ja niemand wünscht, mit leeren Händen zurückkommen würden aus Moskau, wäre die Lage ja nicht nur nicht besser als vorher, sondern dann vermutlich noch schlechter.
Ich denke, dies ist ein enorm wichtiger, aber vielleicht auch ganz entscheidender, vielleicht letzter Versuch, doch noch Minsk, also die diplomatische Lösung auf den Weg zu bringen und nicht nur sich gegenseitig hohle Versprechungen zu machen, sondern tatsächlich mit der Umsetzung einer Waffenruhe, eines Rückzugs schwerer Waffen, so wie schon im September im Prinzip vereinbart, zu beginnen.
Man muss zwischen langfristigen und kurzfristigen Lösungen unterscheiden
Schulz: Es gibt ja unterschiedliche Meldungen darüber, was Merkel und Hollande jetzt im Gepäck haben. Sie haben wie gesagt die Gespräche zu Minsk moderiert. Welche Informationen haben Sie denn jetzt darüber, was aktuell verhandelt wird?
Ischinger: Ich denke, man muss unterscheiden zwischen dem Kurzfristigen und dem Langfristigen. Das Kurzfristige ist die Frage, lässt sich eine Waffenruhe herstellen, lässt sich ein Waffenstillstand vereinbaren, wenn ja, auf welcher Linie, gilt die Linie von Minsk noch. Die ist von den Separatisten in den letzten Tagen, Wochen nach Westen verschoben worden.
Wäre Poroschenko bereit, um des lieben Friedens willen diese neue de facto Linie möglicherweise zu akzeptieren, was würde er als Gegenleistung verlangen – das sind sicherlich Fragen, die hier ganz zentral mit auf der Agenda stehen. Das ist die kurzfristige Frage, das Ruhen der Waffen.
Die längerfristige Frage ist, was müsste geschehen auf beiden Seiten, um einen Frieden zu erreichen, also eine Autonomielösung für die Ukraine, so wie geplant, eine wirtschaftliche Wiedergesundung, ein Verzicht der Separatisten auf Waffen, auf bewaffnetes Vorgehen, Frieden in der gesamten Ukraine und Respektierung der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität, wie man sagt, also Respektierung der Grenzen, und zwar langfristig.
Ob das gelingen kann, das ist die ganz große Frage, und da habe ich persönlich große Zweifel, ob wir, ob der Westen den Preis bezahlen kann, den vermutlich Präsident Putin eigentlich fordert, nämlich den Verzicht darauf, dass die Ukraine sich sozusagen dem Westen anschließt. Westen heißt in Putins Vokabular vermutlich vor allen Dingen NATO, aber auch EU.
Ob das gelingen kann, das ist die ganz große Frage, und da habe ich persönlich große Zweifel, ob wir, ob der Westen den Preis bezahlen kann, den vermutlich Präsident Putin eigentlich fordert, nämlich den Verzicht darauf, dass die Ukraine sich sozusagen dem Westen anschließt. Westen heißt in Putins Vokabular vermutlich vor allen Dingen NATO, aber auch EU.
"Es ist Sache der Ukraine zu entscheiden, wo sie hin will"
Schulz: Aber ist es denn gut und richtig, das immer wieder auf diese Frage zu fokussieren, Ukraine, entscheide dich, zu wem willst du gehören, zum Westen oder zu Russland? Das war ja eigentlich der Ausgangspunkt für die ganze Eskalation.
Ischinger: Das ist natürlich ganz falsch und ich denke, wir haben im Westen immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Frage ja auch gar nicht gestellt werden soll.
Schulz: Aber Sie haben sie ja gerade gestellt.
Ischinger: Nein, nein! Es ist Sache der Ukraine zu entscheiden, wo sie hin will, und möglicherweise möchte die Ukraine, wenn sie sich frei entscheiden kann, sowohl das eine wie das andere, gute Beziehungen mit dem östlichen Nachbarn und enge Anbindung an die EU. Dem steht aus westlicher Sicht ja nichts entgegen. Aber ich denke, in Moskau gibt es schon die große Sorge, dass sich der Fall Ukraine zu einem Modellfall westlicher, liberaler, rechtsstaatlicher Demokratie entwickeln könnte mit großen Freiheiten und möglicherweise auch wirtschaftlicher Prosperität. Was würde dann der Russe möglicherweise sagen?
Wenn das in der Ukraine möglich ist, warum nicht bei uns? Damit werden existenzielle Fragen für die gegenwärtige Linie in Moskau gestellt. Ich denke, alle diese Fragen schwirren im Hintergrund auch herum, weit jenseits der konkreten Frage des Schweigens der Waffen.
"Man hat doch Rücksicht auf russische Interessen genommen"
Schulz: Hat man da auch zu lange aneinander vorbeigeredet? Wir haben gerade noch mal rausgesucht jetzt anlässlich der Sicherheitskonferenz – es hat ja diese Brandrede gegeben von Putin 2007, als er ganz deutlich gemacht hat, wie stark er sich auch vom Westen in die Enge gedrängt fühlt, zum Beispiel durch die NATO-Osterweiterung. Wir haben einen Auszug noch mal rausgesucht.
Wladimir Putin: "Heute sind wir Zeugen einer fast unbegrenzten Anwendung militärischer Mittel. Diese Gewaltanwendung zieht die Welt in die Tiefe militärischer Konflikte. Es fehlt an Kraft, eine gemeinsame Lösung zu finden."
Schulz: Das war Wladimir Putin auf der Sicherheitskonferenz 2007. Hat ihn da niemand ernst genommen?
Ischinger: Man hat die Tragweite seiner damaligen Äußerungen vielleicht in der Tat unterschätzt. Ganz unterschätzt hat man es nicht. Ich war damals selbst mit im Saal als normaler Teilnehmer. Das war vor meiner Zeit als Vorsitzender der Konferenz. Und ich kann mich sehr genau daran erinnern, dass ein sehr prominenter deutscher Publizist laut in den Saal hineinrief, hier wird ein neuer Kalter Krieg angekündigt. Also man hat ihm schon zugehört.
Aber ich möchte doch einen Punkt dazu machen. Selbst wenn wir konzedieren, selbst wenn wir zugeben wollen, dass möglicherweise psychologische oder andere Fehler auch im Westen gemacht worden sind im Umgang mit Russland in den letzten vielen Jahren, ja nichts von alledem kann doch aber als Begründung oder Rechtfertigung dafür hergezogen werden, dass plötzlich ein Land einem anderen einen Teil wegnimmt und militärisch interveniert.
Hier muss doch irgendwo eine Grenze gezogen werden. Es ist ja in Ordnung, wenn Russland sich beschwert über bestimmte NATO-Pläne. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit Frankreich und anderen 2008 wegen dieser russischen Sorgen, nicht zuletzt wegen dieser russischen Sorgen den Überlegungen, die Ukraine und Georgien in die NATO einzubeziehen, einen Riegel vorgeschoben. Man hat doch Rücksicht auf russische Interessen genommen.
Ich halte das für einen Mythos, dass Russland von der NATO zunehmend eingekreist werde. Das ist ein Märchen, das schlicht und ergreifend nicht stimmt!
Die Ukraine wird fragen: "Was genau ist denn die Gegenleistung, die wir dafür erhalten?"
Schulz: Wenn wir jetzt noch mal konkret auf die Situation in der Ukraine und den möglichen Friedensplan schauen, den Merkel und Hollande eventuell in der Tasche haben. Wir haben ja gerade schon darüber gesprochen: Ein kritischer Punkt wird die Frage sein, wo die Demarkationslinie dann verläuft. Kann sich Kiew, kann sich der Westen auf etwas anderes einlassen als auf die Linie von Minsk?
Ischinger: Ich denke, es wird ganz wichtig sein, nur so stelle ich mir vor, kann Präsident Poroschenko das auch seinen Wählern verkaufen, dass man im Prinzip Minsk bestätigt. Dann wird es eine gewisse diplomatische Kunst erfordern, hier an der einen oder anderen Stelle Aktualisierungen – Minsk ist schon ein gutes halbes Jahr alt – anzubringen, vielleicht in Form eines zusätzlichen kleinen Protokolls.
Da gibt es ja schon Wege, um solche Dinge darzustellen, um die Hauptsache darzustellen, nämlich die Umsetzung von Minsk mit der einen oder anderen kleinen Anpassung.
Da gibt es ja schon Wege, um solche Dinge darzustellen, um die Hauptsache darzustellen, nämlich die Umsetzung von Minsk mit der einen oder anderen kleinen Anpassung.
Das halte ich nicht für eine unüberwindbare Frage, aber natürlich wird die Ukraine fragen, wenn wir eine weitere Konzession machen sollen, was genau ist denn die Gegenleistung, die wir dafür erhalten, und wie genau sieht die Garantie aus, dass wir diese weitere Konzession nicht machen, ohne dass jemals die andere Seite die versprochenen Maßnahmen, nämlich Rückzug der schweren Waffen der Separatisten, Respektierung der russisch-ukrainischen Grenze und so weiter und so weiter, durchsetzt. Man wird in Kiew bestimmt große Sorge haben, hier vorgeführt zu werden, und es wäre ja nicht das erste Mal, dass eine ukrainische Regierung von der eigenen Bevölkerung unter massive Kritik genommen wird.
Schulz: Der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, heute hier in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank.
Ischinger: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.