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Ukraine-Konflikt
"Wir müssen realistischer werden"

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, hat davor gewarnt, die Lage in der Ukraine zu beschönigen. Über eine Lockerung der Sanktionen gegenüber Russland müsse man nicht diskutieren, sagte der CDU-Politiker im DLF.

Norbert Röttgen im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen
    Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen (dpa / picture-alliance / Karlheinz Schindler)
    Röttgen sagte, der Westen müsse aufhören sich Illusionen hinzugeben. Die Ukraine und Russland seien keine Verhandlungspartner auf Augenhöhe, sagte er. Einer sei der Geschlagene und der andere der Sieger.
    Wenn es in der Ukraine weitere Geländegewinne der Separatisten mit russischer Hilfe gebe, müssten neue Sanktionen ausgesprochen werden, sagte Röttgen. Als Beispiel nannte er eine Einnahme der Stadt Mariupol im Süden des Landes.
    Im Ukraine-Konflikt wächst die Sorge vor einer erneuten Eskalation der Kämpfe im Osten des Landes. Die im September vereinbarte Waffenruhe für die Ostukraine ist nach Ansicht der Vereinten Nationen in akuter Gefahr. Die ukrainische Regierung erklärte am Mittwoch, die Armee bereite sich auf neue Kampfeinsätze in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten vor.


    Das Interview mit Norbert Röttgen in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Ob die Staats- und Regierungschefs, die sich ab heute im australischen Brisbane treffen, vor den Kameras ein Lächeln zustande bekommen werden, das wissen wir noch nicht. Schau'n wir mal! Mit Blick auf die Lage in der Ostukraine gibt es allerdings wenig Anlass zu hochgezogenen Mundwinkeln beim G20-Gipfel. G20: Das sind die 20 wirtschaftsstärksten Industrie- und Schwellenländer. Und anders als die G8, die sich neuerdings als G7 treffen, ist Wladimir Putin in Australien mit von der Partie, und er hat sogar ein paar Kriegsschiffe mitgebracht, die in der Gegend herumfahren. Angela Merkel hat gesagt, sie ist zu einem Treffen mit Putin bereit, denn Kiew und Moskau werfen sich abermals eine Verschärfung der Krise im Donbass vor. Das gehört inzwischen zum guten Ton. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa berichtet über Truppenbewegung an der ukrainisch-russischen Grenze, haben wir gerade gehört. Die ukrainische Seite spricht von mehr als 40 Angriffen durch die Aufständischen. Die Zahl ist allerdings von unabhängiger Seite nicht bestätigt.
    Zur Erinnerung: Im September hatten sich die Beteiligten in Minsk auf eine Waffenruhe und einen Abzug der Kämpfer geeinigt sowie auf eine Autonomieregelung für Donezk und Lugansk. Tempi passati? - Am Telefon ist jetzt Norbert Röttgen (CDU), der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.
    Norbert Röttgen: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Röttgen, ist das Abkommen von Minsk Altpapier?
    Röttgen: Es ist einerseits kein politisches Altpapier, weil es ein Vertrag ist mit der Unterschrift Moskaus, und nun können alle, der Westen und die Ukraine, die Erfüllung eines unterschriebenen Vertrages einklagen. Auf der anderen Seite, glaube ich, müssen wir auch jetzt endlich mal aufhören, auch in der deutschen Politik, in Teilen der deutschen Politik, auch im Land, im Westen, die Lage zu beschönigen und uns immer wieder Illusionen hinzugeben. Ich habe jedenfalls von vornherein gesagt, dass dieses Minsker Abkommen zunächst einmal dazu dienen wird, dass Russland, Putin sich machtpolitisch konsolidieren wird. Es war eine Bilateralisierung des Konfliktes, obwohl es ein europäischer internationaler Konflikt ist, also zwischen Ukraine und Russland, und das sind nicht Partner auf Augenhöhe, sondern der eine ist der militärisch Geschlagene, der andere ist der Sieger, und genau das sehen wir nun. Ich sehe auch eigentlich keinen, der überrascht ist, dass Russland diesen Vertrag nicht einhält. Trotzdem wurde lange Zeit ganz anders, beschönigend darüber geredet. Wir müssen realistischer werden.
    Heinemann: Wer beschönigt?
    Röttgen: Das hört man immer wieder. Ich will jetzt auch keine Namen nennen.
    Heinemann: Schade! Warum denn nicht?
    Röttgen: Wenn Sie die Debatte seither verfolgen, dann sehen Sie immer, seit Anfang an, wie sehr das auch in der deutschen Politik immer als der Erfolg bezeichnet wurde, obwohl die realistische Analyse von Anfang an immer anders war. Wir müssen aufhören, beschönigend zu reden, und müssen auch realistischer sprechen, so wie wir die Lage einschätzen.
    Heinemann: Denken Sie da eher an die Regierung oder an die Opposition, wenn Sie von Beschönigen sprechen?
    Röttgen: Ich bleibe bei meiner Formulierung.
    Heinemann: Die war, Sie legen sich nicht fest?
    Röttgen: Ich bleibe dabei, dass wir mit der Beschönigung auch in Teilen der deutschen Politik, aber auch nicht nur in Deutschland, sondern in Europa aufhören müssen, die Lage zu beschönigen, wie ich es eben geschildert habe.
    Heinemann: Herr Röttgen, wieso bewegen die Sanktionen gegen Russland die russische Regierung nicht zum Einlenken?
    Röttgen: Der Beschreibung kann ich mich nicht anschließen, weil es auch eine Illusion wäre zu glauben, dass Sanktionen ein kurzfristiger Wirkungsmechanismus, sind.
    Heinemann: Ist das nicht beschönigend?
    "Wirtschaftliche Lage in Russland ist verheerend"
    Röttgen: Nein, das ist nicht beschönigend, sondern das ist realistisch. Sanktionen sind Ausdruck eines einheitlichen politischen Willens des Westens, der Europäer und der USA, die sagen, wir akzeptieren das nicht, was dort geschieht. Das muss man ja auch mal ausdrücken konkret und sagen, das ist der Preis, und darin müssen wir auch berechenbar für Putin sein, damit er weitere Eskalationen unterlässt, weil er genau weiß, dass er damit sanktioniert wird. Die wirtschaftliche Lage in Russland ist verheerend. Das erzeugt auch Druck. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Das dauert seine Zeit. Sanktionen sind immer ein Mechanismus, der in der Zeit spielt. Aber es wirkt ganz, ganz sicher. Es ist ja bezeichnend, dass Putin in Wahrheit keinmal, aber ganz sicher nicht bei den zweiten Sanktionen keine Gegensanktionen beschlossen hat. Das ist nicht das Feld, wo er die Auseinandersetzung sucht.
    Heinemann: Müssen diese Strafmaßnahmen verschärft werden?
    Röttgen: Jedenfalls ist die Diskussion darüber, ob man sie denn lockern könne, auch völlig ohne Realitätsbezug, und ich finde, wie ich eben sagte, wir müssen völlig berechenbar und glaubwürdig sein. Zum Beispiel muss klar sein: Wenn es weitere Geländegewinne geben sollte- jetzt sehen wir, glaube ich, machtpolitische Konsolidierung, so unerfreulich sie ist; es haben die separatistischen Wahlen stattgefunden und jetzt wird das erreichte Gebiet durch Separatisten und russische Kräfte militärisch abgesichert.
    Heinemann: Herr Röttgen, Entschuldigung!
    Röttgen: Wenn ich das noch sagen darf? Es muss also klar sein: Wenn im Süden etwa Mariupol eingenommen werden sollte mit Hilfe russischer Kräfte, dann muss es politisch völlig klar sein, dass dies mit Sanktionen, mit weiteren Sanktionen belegt wird.
    Heinemann: Berechenbar und glaubwürdig - das wäre die Frage, Herr Röttgen, vor allen Dingen, wenn man die Frage mal wirklich konkret beantwortet. Noch mal: Müssen die Strafmaßnahmen verschärft werden? Am Montag sitzen die EU-Außenminister zusammen.
    Röttgen: Ich glaube, noch nicht. Aber dann, wenn es weitere militärische, weitere Bewegungen in das Territorium, in neues Territorium herein gibt. Für mich wäre Mariupol die Stadt, bei der jetzt noch in der Region Kämpfe stattfinden, die noch nicht eingenommen worden ist. Wenn es dazu käme, dann muss eigentlich klar sein, dass das ein quasi politischer Automatismus ist, dass das zu neuen Sanktionen führt.
    Heinemann: Sollten die G20 künftig als G19 tagen?
    Röttgen: Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass G7 ein richtiges Forum ist, dass in diesem Teil Russland sich isoliert hat, nicht dabei ist. Ich bin für absolute Klarheit gegenüber Russland. Aber dass dieses Gremium, dass ja jetzt zurzeit tagt, eben auch eines ist, wo alle Putin klar machen müssen, dass er sich außerhalb der Weltgemeinschaft stellt, das hat auch einen Wert.
    Heinemann: Sind Sie sicher, dass die ukrainische Seite Geist und Buchstaben des Abkommens von Minsk erfüllt?
    Röttgen: Die ukrainische Seite erfüllt die Verpflichtungen aus diesem Vertrag. Zu einem beachtlichen Teil hat sie sie erfüllt. Es ist im Grunde genommen schon ein gewisser Rückzug von staatlicher Autorität und Souveränität in diesen Bereichen. Es sind noch ukrainische Kräfte dort. Auch die Ukraine hat noch weiteres zu erfüllen, was Rechte und Dezentralisierung anbelangt. Dazu ist sie auch bereit, daran habe ich keinen Zweifel. Aber bei der kompletten Nichterfüllung auf russischer Seite ist auch klar, dass dieses Abkommen jetzt nicht weiter implementiert wird. Das ist in erheblicher Weise, vor allen Dingen was den militärischen Teil anbelangt, von der ukrainischen Seite erfüllt worden, aber von russischer Seite ist nichts passiert, und darum ist das jetzt erst mal ein Stillstand in der Implementierung, so wie es jetzt ist im beschriebenen Zustand.
    Heinemann: Herr Röttgen, Ihr Parteifreund Andreas Schockenhoff hat Präsident Putin als einen paranoiden Herrscher bezeichnet - ich zitiere aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" -, "der im Inneren die Erhebung der Zivilgesellschaft fürchtet und im Äußeren den Bedeutungsverlust seines Landes." Ist die Gefühlslage und der Gemütszustand Wladimir Putins damit richtig beschrieben?
    "Putin ist nicht paranoid"
    Röttgen: Ich schließe mich meinem Freund Andreas Schockenhoff, mit dem ich auch in dieser Frage fast zu 100 Prozent übereinstimme, dem Adjektiv Paranoid nicht an. Ich halte Wladimir Putin für zynisch, aber nicht für paranoid, nicht für krank. Aber die Ursachen, die Andreas Schockenhoff beschrieben hat, als Konfliktursache, die teile ich: Was hat diesen Konflikt ausgelöst, eine doppelte Bedrohungswahrnehmung in Putin durch die Bürgerbewegung in der Ukraine, also eine Bewegung von Bürgern, die Selbstbestimmung wollen, ihre korrupte Regierung aus dem Land werfen und die Ukraine mindestens normativ in den Westen führen wollen, nicht in die Institutionen, nicht NATO, nicht EU. Das steht nicht an. Das hat Putin bedroht. Das was auf dem Maidan stattfand, hätte ja auch auf dem Roten Platz stattfinden können. Das hat er den Russen klar gemacht, da ist militärische Gewalt davor, also innere Repression. Und zum ersten Mal in der russischen Geschichte drohte die Ukraine vollkommen aus seinem Einflussbereich, also Russlands, sich in den Westen zu verabschieden, in Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts äußerer Verlust, weil ich glaube, für Putin zählt die Kategorie der Macht. Und diese doppelte Machtbedrohung, innenpolitisch und außenpolitisch, wie Schockenhoff beschrieben hat, das ist der Kern des Konfliktes, und darum bleibt der Konflikt darum: Darf die Ukraine ein Erfolg werden, wirtschaftlich und demokratisch, oder nicht. Ein wirtschaftlich-demokratischer Erfolg, das ist das, was Putin anhaltend als seine Machtbedrohung ansieht.
    Heinemann: Vielleicht zählt für ihn ja auch Verlässlichkeit, zum Beispiel die der NATO, die absprachewidrig ihm immer weiter auf die Pelle rückt.
    Röttgen: Das tut die NATO nicht. Das ist auch eine Mär, dass es eine NATO-Ausdehnung gegeben hat. Politisch gibt es etwas anderes, dass die Völker ...
    Heinemann: Entschuldigung! Seit dem Ende der Sowjetunion hat es natürlich eine Ausdehnung der NATO gegeben.
    Röttgen: Nein, ich teile Ihre Auffassung, Ihre Beschreibung, Ihre Wertung nicht, weil es gibt nicht NATO-Ausdehnung, sondern es gibt Länder, die in Wahrnehmung ihres demokratischen Selbstbestimmungsrechts sagen, wir wollen der NATO angehören. Die Polen sagen das, die Balten sagen das. Sie sagen jetzt, wir sind froh, dass wir das gemacht haben. Wer hat das Recht, diesen Ländern das zu verweigern, diesen Menschen? Das ist das, was stattfindet. Diese Völker wollen zum Westen gehören und wir haben nicht das Recht, es ihnen zu verwehren. Und es gibt keine Ausdehnung der NATO und eine Bedrohung der NATO von Putin. Das gibt es meines Erachtens definitiv nicht.
    Heinemann: Man müsste nur berücksichtigen, dass das woanders anders gesehen wird.
    Röttgen: Das ist richtig! Die Wahrnehmung, dass diese Länder normativ zum Westen gehören, gehören wollen, das ist etwas, was dem Einfluss-Sphären-Denken Putins zuwider läuft. Das müssen wir auch sehen, das haben wir auch nicht hinreichend berücksichtigt zu unterschiedlichen Zeiten. Das ist ein Fehler, der nichts entschuldigt auf Putins Seiten. Aber klar: Man muss sich immer in die Sicht des anderen reindenken. Das war ein Fehler und das müssen wir auch zur Kenntnis nehmen und auch berücksichtigen, dass Putin diese Sichtweise hat.
    Heinemann: Norbert Röttgen (CDU), der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Röttgen: Ich danke Ihnen, Herr Heinemann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.