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Ukraine-Konflikt
"Wir stehen unmittelbar vor dem Bürgerkrieg"

Regierungstruppen und Separatisten liefern sich im Osten des Landes weiterhin blutige Gefechte. Er habe kaum noch Hoffnung auf eine diplomatische Lösung, sagt Kyryl Savin, Leiter der Heinrich Böll Stiftung in Kiew. Vielmehr kippe die Stimmung innerhalb der Bevölkerung hin zu einem Bürgerkrieg, so seine Befürchtung.

Kyryl Savin im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Ukrainischer Soldat an einem Checkpoint in der Nähe von Slawjansk.
    Am 11. Mai soll per Referndum über eine Loslösung der Ostukraine vom Rest des Landes abgestimmt werden. (AFP / VASILY MAXIMOV)
    Martin Zagatta: In Wien tagt seit dem Vormittag der Europarat, um doch noch nach einer Verhandlungslösung für die Ukraine zu suchen. Darüber berichten wir später in der Sendung. Doch ob eine diplomatische, eine friedliche Weichenstellung überhaupt noch möglich ist, daran gibt es immer mehr Zweifel. Und was wir in den letzten Stunden aus der Ukraine hören, das deutet auch alles darauf hin, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Regierungstruppen und den Separatisten immer mehr die Züge eines Bürgerkrieges annehmen.
    Wir sind jetzt verbunden mit Kyryl Savin, dem Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Guten Tag, Herr Savin!
    Kyryl Savin: Hallo! Guten Tag aus Kiew!
    Zagatta: Herr Savin, wenn wir das jetzt zum Maßstab nehmen, was unsere Korrespondenten gerade berichten über den Einfluss der Separatisten jetzt auch in großen Betrieben zum Beispiel im Osten des Landes und zuvor über die blutigen Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Separatisten auch heute noch, ist das schon aus Ihrer Sicht eine Art Bürgerkrieg, was sich da abspielt?
    Savin: Ich glaube, noch ist es kein Bürgerkrieg, denn die Gefechte, die man jetzt sieht, rund um die Stadt Slawjansk vor allem, die führt ja die ukrainische Armee beziehungsweise Nationalgarde nicht gegen die einheimische Bevölkerung und auch nicht gegen Separatisten, sondern vielmehr gegen russische Diversanten plus einem kriminellen Milieu, die sich angeschlossen haben an russische Geheimagenten und Diversanten. Aber wir stehen unmittelbar vor dem Bürgerkrieg, denn die Stimmen, die ich jetzt gerade gehört habe, sind ja sehr authentisch. Man hört jetzt ständig, dass die Leute in Donbas immer unzufriedener sind und sind auch bereit zu kämpfen.
    Zagatta: Das wollte ich gerade fragen. Kippt da nicht die Stimmung? Das was wir da aus diesem Betrieb eben gehört haben, das deutet ja darauf hin - das sind ja nicht unbedingt jetzt bewaffnete Separatisten, sondern das ist ja die Bevölkerung, die arbeitende Bevölkerung -, dass die Stimmung dort unter Umständen schon längst gekippt ist.
    Savin: Die Stimmung ja, aber ich sehe noch nicht, dass sie aktiv sozusagen an die Waffe greifen und gegen die proukrainischen Kräfte kämpfen. Das wäre für mich sozusagen die Endphase, wo ich sagen kann, dass das schon ein Bürgerkrieg ist. Noch nicht, aber unmittelbar davor.
    Zagatta: Was bedeutet das für dieses, jetzt am kommenden Sonntag schon angesetzte Referendum, wo die Separatisten ja abstimmen lassen wollen über die Loslösung, wenn die Stimmung dort so ist? Gehen Sie dann davon aus, dass dieses Referendum dann eine Mehrheit bringt für diese Loslösung, beziehungsweise dass es da überhaupt zu einer fairen Abstimmung kommen kann, die diesen Namen verdient?
    Wahlbeteiligung an Referendum ist entscheidend
    Savin: Erst mal bin ich mir gar nicht sicher, ob ein Referendum flächendeckend in Donbas stattfinden kann, denn dafür muss die Vorbereitungsarbeit geleistet werden, und bis jetzt hört man ja nicht, dass man dort die Wahllokale öffnet – ich meine die Separatisten -, dass man die Wählerlisten hat, dass auch die ganze Infrastruktur aufgebaut wird. Denn man kann das nicht über Nacht alles machen beziehungsweise sehr schwer.
    Und B: Ich glaube, entscheidend wird ja nicht sein, wie viele Leute dafür bei diesem Referendum abgestimmt haben, sondern wie hoch die Wahlbeteiligung sein wird, denn natürlich die proukrainisch gestimmten Bürger und Bürgerinnen in Donbas werden einfach zu diesem Referendum gar nicht kommen. Sie werden das ignorieren. Deswegen die Wahlbeteiligung ist entscheidend als Indikator, wie ist die Stimmung in Donbas.
    Zagatta: Gehen Sie denn davon aus – so haben Sie uns das, glaube ich, vor einigen Wochen, als wir mal telefoniert haben, gesagt -, dass die Mehrheit dort eindeutig dafür ist, beim Zentralstaat, bei Kiew zu bleiben? Gehen Sie davon aus, dass das immer noch so ist?
    Savin: Nein. Im Moment bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich glaube, die Stimmung ist tatsächlich schon anders als vor ein paar Wochen, und ich schließe grundsätzlich nicht aus, dass selbst bei einer fairen Abstimmung eine knappe Mehrheit sein könnte für die Unabhängigkeit oder den Anschluss zu Russland.
    Zagatta: Heißt das dann im Umkehrschluss auch, jetzt läuft eigentlich alles auf eine Spaltung der Ukraine hinaus?
    Savin: Die Spaltung ist schon mit der Krim vollzogen.
    Zagatta: Auf eine weitere!
    Savin: Das ist nicht grundsätzlich etwas Neues. – Ja, das läuft in diese Richtung. Aber noch, glaube ich, ist die Hoffnung nicht ganz vorbei, denn ich glaube, dieses Referendum am 11. Mai wird eher nicht stattfinden, oder so stattfinden, dass man das nicht wirklich als legitime Volksabstimmung wahrnehmen kann.
    Zagatta: Die Regierungstruppen, die da im Moment eingesetzt werden, die haben ja offensichtlich den Auftrag, auch dieses Referendum dort zu unterbinden. Wie sehen Sie deren Macht? Haben die aus Ihrer Sicht überhaupt auch die Mittel dazu, das zu verhindern? Wie läuft das da im Moment?
    Savin: Nein, nicht wirklich. Die Truppen sind im Moment sehr damit beschäftigt, dass man die Stadt Slawjansk und Kramatowsk in einem Kessel hat, dass die dort konzentrierten Separatisten und Diversanten erst mal da bleiben. Da laufen ständig kleine Kämpfe und so viel Kraft hat man ja auch nicht, um alle Kleinstädte von Donbas zu besetzen oder zu kontrollieren oder dieses Referendum zu verhindern, denn auf Donbas leben über zehn Millionen Menschen.
    Zagatta: Herr Savin, Moskau bestreitet ja, diese Separatisten mit Waffen auszurüsten, sie so zu unterstützen. Woher kommen diese zum Teil ja schweren Waffen? Die Separatisten sind ja offenbar so gut ausgerüstet, dass sie sogar der Armee Paroli bieten können. Geht das ohne Waffen aus Moskau?
    Savin: Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ohne Waffenlieferungen aus Russland möglich ist, denn vor Ort kann man Waffen nicht kaufen, auf jeden Fall nicht die schweren Waffen, nicht die Maschinengewehre, nicht die Raketen, die da eingesetzt worden sind gegen Hubschrauber. Deswegen die einzige Antwort für mich selbst ist, dass die Waffen über die Grenze reingeschmuggelt sind. Die Grenze zwischen der Ukraine und Russland ist ja nicht dicht. Da stehen nur die Kontrollposten auf großen Straßen und alles andere ist nicht mal demarkiert, nicht mal eine Linie klar, wo die Grenze verläuft. Deswegen glaube ich, die Waffen werden über die Grenzen geliefert.
    Zagatta: In Wien tagt ja zur Stunde der Europarat und zu den 30 Außenministern, die dort zusammensitzen, gehören auch der russische und der der Ukraine. Die Erwartungen, so hören wir aus Wien, sind dort eher gedämpft. Hat man denn in Kiew noch ernsthaft irgendwelche Hoffnung, dass da auf diplomatischem Weg noch irgendetwas herauskommen kann?
    Savin: Keine Hoffnung auf diplomatische Lösung
    Savin: Nein, die Hoffnung ist leider schon lange nicht mehr da. Man hat ja auch gesehen die Genfer Verhandlungen, die im Grunde genommen nichts gebracht haben. Weder Kiew, noch Moskau, noch die Separatisten vor Ort auf Donbas haben ja nicht mal versucht, diese Anforderungen zu erfüllen. Deswegen auf dem diplomatischen Weg gibt es leider nicht so sehr viel Hoffnung.
    Zagatta: Sie haben Zweifel, dass dieses von den Separatisten gewünschte Referendum am Sonntag stattfinden kann, oder halbwegs ordnungsgemäß stattfinden kann. Glauben Sie denn, dass die Präsidentenwahl, die für den 25. Mai vorgesehen ist, durchgeführt werden kann auch im Osten des Landes?
    Bedingungen für Präsidentschaftswahl am 25. Mai fragwürdig
    Savin: Im Westen der Ukraine ist das eher kein Problem. Selbst Odessa ist nicht problematisch. Aber Donbas sehe ich genauso problematisch, dass da in allen Wahlkreisen, in allen Wahllokalen tatsächlich Bedingungen geschaffen werden, dass alle Bürger und Bürgerinnen frei wählen können. Ich glaube, in einigen Ortschaften wird das eher nicht möglich sein. Die Städte Slawjansk und Kramatowsk sind nicht unter Kontrolle der Regierung. Viele andere Städte sind nur teilweise unter Kontrolle der Regierung und wir wissen ja nicht, was noch am 9. Mai passieren wird. Das wird der Siegestag sein und das wird so ein Anlass für die weitere Offensive der prorussischen Kräfte sein. Deswegen auch die Präsidentschaftswahl am 25. Mai ist sehr kompliziert und sehr fragwürdig, ob das stattfinden kann in Donbas.
    Zagatta: Kyryl Savin, der Leiter der Heinrich Böll Stiftung in Kiew, war das. Herr Savin, ganz herzlichen Dank für das Gespräch, ganz herzlichen Dank für Ihre Einschätzungen.
    Savin: Ich danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.