Stephanie Rohde: Die Ukraine braucht rund 25 Milliarden Euro umgerechnet von ausländischen Geldgebern in den kommenden zwei Jahren, weil Russland die Hilfszahlungen auf Eis gelegt hat. Jetzt könnten, wie wir hören, die EU, die USA und der IWF einspringen an dieser Stelle. Verkauft sich die Ukraine auf diesem Wege politisch an mehr oder weniger willige Geldgeber?
Wilfried Jilge: Nein, das glaube ich nicht. Wir müssen ja auch die Situation mit dem vergleichen, was vorher war. Russland hat bisher zumindest angefangen, Kredite zu geben, allerdings rein nach politischer Zweckmäßigkeit. Diese Kredite waren nicht nach ökonomischen Effizienzkriterien ausgerichtet. Sie haben die Situation des ukrainischen Haushalts kurzfristig zwar etwas gemildert. Langfristig bewirken Kredite ohne jegliche Kriterien nur eine Verstärkung oder eine Steigerung des Leistungsbilanzdefizits und des Haushaltsdefizits und stärken noch die Abhängigkeit der Ukraine in diesem Fall von Russland. Es kommt darauf an, wie man die Kredite vergibt, und dann kann es für die Ukraine auch eine Chance geben, unter dieser jetzigen schwierigen Drucksituation sozusagen das Zeitfenster zu nutzen, wichtige Wirtschaftsreformen anzuschieben.
Rohde: Die EU hat aber immerhin betont, man sitze gemeinsam mit Russland in diesem einen Boot und müsse gemeinsam eine Lösung für die Ukraine finden, auch wirtschaftlich. Ist das jetzt überhaupt noch realistisch?
Wichtige Wirtschaftsreformen anschieben
Jilge: Man muss sehen, wie sich die Lage weiter entwickelt und wie sich auch jetzt die Beziehungen wieder neu entwickeln zwischen Russland und der Ukraine. Ministerpräsident Medwedew hat heute verkündet, dass die Kredite erst mal nicht weitergezahlt werden, solange es noch keine Regierung gibt. Russland erkennt ja auch die Absetzung von Janukowitsch nicht an, spricht auch weiterhin von einem Umsturz und begründet die Nichtvergabe von weiteren Krediten nicht ganz unverständlich damit, dass man ja auch keinen Gesprächspartner zurzeit habe und dass eine ukrainische Führung nicht nur noch nicht vollständig da ist, sondern auch noch kein genaues wirtschaftliches Programm vorgelegt habe. Dennoch muss man – und das gilt vor allem für die EU, die auch durch die am Freitag getroffene Vereinbarung jetzt eine Verantwortung für die Ukraine hat – schnell und zügig dem Land substanziell helfen, denn heute hat Arsenij Jazenjuk, einer der ehemaligen Oppositionsführer, ja gesagt, die Ukraine steht am Abgrund, und das tut sie auch. Möglicherweise wird ja auch die Verbilligung des Gaspreises ausgesetzt, die ja quartalsweise von Russland gewährt wurde. Insofern muss man jetzt helfen, aber das eben mit Kriterien verbinden, die zugleich Reformen einleiten, Reformen zugunsten von Transparenz und Bekämpfung der Korruption im Gassektor, im Energiesektor, Reformen, die den Staatshaushalt wieder transparent machen, was unter dem Regime von Janukowitsch völlig in eine andere Richtung lief, und Reformen, die den Mittelstand wieder stärken und Rechtssicherheit geben, um auch dann Auslandsinvestitionen wieder herbeizuführen. Vor allem beim Staatshaushalt und im Energiesektor werden die Geldgeber Reformen fordern.
Rohde: Aber sind denn genau diese Reformen oder diese harten Auflagen, die die Geldgeber fordern, nicht auch gleichzeitig ein Problem für die neue Regierung, weil sie sie in die Knie zwingen werden?
Konditionslose Kredite ziehen die Ukraine weiter in den Abgrund
Jilge: Das kommt darauf an, wie man das betrachtet. Wenn man einfach der Ukraine ohne Bedingungen Kredite gibt, dann ist das wie bei einem Drogenabhängigen: Sie wird immer weiter in den Abgrund gezogen, denn sie kann ohne irgendwelche Reformen diese Kredite dann auch nicht mehr weiter zahlen, und mittelfristig wird es auch für die Bevölkerung dann immer schwieriger. Es kommt darauf an, wie man diese Reformen begleitet. Die Kredite sollen ja dazu dienen, Reformen durchzuführen, die dann wieder Investitionen ins Land bringen. Dabei wird es wichtig sein, dass die Geldgeber natürlich die Lage der heutigen Ukraine berücksichtigen und die Kriterien so formulieren, dass sie auch machbar sind.
Aber ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Nehmen Sie den Staatshaushalt, nehmen Sie das System der Staatsankäufe, das unter Wiktor Janukowitsch zu einem Versorgungsinstrument regierungsnaher Oligarchen geworden ist und sozusagen das Kernstück systemischer Korruption und damit seines Herrschaftssystems. Hier hat die Opposition und hier haben auch einige Abgeordnete der Partei der Regionen vor dem Gipfel von Vilnius schon sehr konstruktive Vorschläge gemacht, wie man zügig klare Signale beim Haushalt setzen kann und damit auch die Geldgeber sozusagen wieder überzeugen kann, dass es sich lohnt, diese Kredite zu vergeben.
Investition in die Zukunft
Im Übrigen sollte man jetzt auch vonseiten derjenigen, die der Ukraine beistehen sollen, eins doch klar sehen: Hier hat sich offensichtlich, wenn alles diesen besseren Weg jetzt weitergeht, eine pro-europäische Bewegung möglicherweise in der Ukraine den Weg gebahnt, die ja die Kredite auch als Investition in die Zukunft eines, für die Stabilität in Osteuropa und in der Nachbarschaft der EU so wichtigen Landes deuten lassen. Insofern: Wenn beide Seiten die Lage des anderen verstehen, vor allem, wenn die Ukraine begreift, dass sie jetzt auch eine Chance hat, durch den Reformdruck aufgeschobene Veränderungen endlich anzuschieben, dann kann diese schwierigste Lage, in der wir jetzt sind, auch eine Chance für das Land sein.
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