Ziel der Sanktionen des Westens ist es laut EU, die russische Wirtschaft zu schwächen, den Zugang zu kritischen Technologien und Märkten zu versperren und die Fähigkeit zur Kriegsführung einzuschränken. Funktioniert das? Ein Überblick.
Welche Sanktionen gegen Russland gibt es?
Gegen Russland wurden insgesamt über 13.500 Sanktionen verhängt. Allein von der Europäischen Union gab es 1.435 bis Ende 2023. Nicht nur die Invasion in der Ukraine seit 2022 und die rechtswidrige Annexion der ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson sind Gründe dafür, auch schon wegen der rechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 wurden Sanktionen beschlossen. Die meisten wurden von der Schweiz verhängt (1.971), dahinter folgen Australien, Japan und die USA.
Die Sanktionen richten sich gegen Finanzwirtschaft und Handel sowie die Sektoren Energie, Verkehr, Technologie und Verteidigung. Im Energiesektor verfolgen sie zwei Zwecke: einerseits Russland finanziell zu schaden, andererseits Schaden für die Weltwirtschaft und die Sanktionskoalition zu verhindern - indem dafür gesorgt wird, dass russisches Öl weiterhin auf dem Markt bleibt. Das unterscheide auch das Sanktionsregime gegen Russland von anderen, sagt Benjamin Hilgenstock, Politikwissenschaftler und Volkswirt bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Es werden hier sehr komplexe Eingriffe in globale Märkte vorgenommen, eben um diese verschiedenen Zielsetzungen gleichzeitig zu realisieren.“
Welche Wirkungen haben die Sanktionen?
Die politischen Ziele wurden bislang nicht erreicht: Russland setzt den Krieg gegen die Ukraine fort, Putins Regime besteht weiter. „Auch unter deutlich stärkeren wirtschaftlichen Effekten von Sanktionen hätten wir dieses Ziel nicht erreicht“, sagt der Politikwissenschaftler Alexander Libman von der Freien Universität Berlin. „Sanktionen sind bekannt für extrem unvorhersagbare und schwache politische Wirkungen.“
Grundsätzlich sei die russische Wirtschaft in überraschend gutem Zustand. Es gebe keine Anzeichen für einen wirtschaftlichen Kollaps, so Libmann. Das liege an zwei Faktoren. Der erste: „Größere staatliche Militärausgaben führen dazu, dass die inländische Nachfrage steigt und auch die Löhne steigen.“ Das stärke wiederum auch die private Nachfrage. Der zweite Faktor: Weil viele westliche Firmen Russland verlassen haben, haben sich Marktnischen geöffnet, die nun russische Unternehmen besetzen.
Auch eine neue Studie von Forschungsinstituten in Kiel, München und Wien für das Bundeswirtschaftsministerium kommt zu dem Ergebnis, dass die Sanktionen den Krieg nicht aufhalten können. Nach Ansicht von Vasily Astrov, Russland-Experte des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche, haben westliche Politiker ihren Einfluss auf die Drittländer überschätzt. Kurz nach der Invasion in die Ukraine kam es in Russland zu einer Rezession von einem Prozent. Nun befindet sich die russische Wirtschaft seit Herbst 2022 wieder im Aufschwung, im vergangenen Jahr wuchs sie um 3,6 Prozent, für dieses Jahr ist ein Plus von über drei Prozent prognostiziert.
Fachleute warnen jedoch, dass dieses Wachstum nicht nachhaltig ist. Die Wirtschaft gilt als überhitzt: Es fehlen Arbeitskräfte, die Löhne sind massiv gestiegen, dadurch auch der Konsum, wodurch wiederum die Preise steigen. Die Inflation liegt bei acht Prozent. Die Zentralbank versucht, diese mit einem hohen Leitzins zu bekämpfen: Er liegt mittlerweile bei 16 Prozent und es wird erwartet, dass er auf 18 Prozent angehoben wird.
Dramatische Einbußen für Russland
Anders bewertet Benjamin Hilgenstock die Lage: "Die Sanktionen funktionieren sehr wohl", sagt er. „Wenn man sich zum Beispiel Russland im Jahr 2023 anguckt: Der Handelsbilanz-Überschuss war etwa 200 Milliarden Dollar kleiner als im Vorjahr. Das macht für makroökonomische Stabilität und auch für politischen Spielraum einen ganz dramatischen Unterschied. Genauso die Tatsache, dass die russische Zentralbank auf Reserven von 300 Milliarden Dollar nicht zurückgreifen kann."
Auch die restlichen Reserven, um das Haushaltsdefizit auszugleichen, schwinden. Aus dem Wohlfahrtsfonds hat Russland für diesen Ausgleich schon ein Viertel entnommen. Das staatliche Unternehmen Gazprom hat 2023 mehr als sechs Milliarden Euro Verluste gemacht. Die russische Regierung gibt 38 Prozent für Militär, Geheimdienst und Polizei aus. Putin hat bereits die Steuern auf hohe Einkommen und die Körperschaftssteuer erhöht.
Erdgas könnte langfristig Problem für Russland werden
Probleme mit der Durchsetzung von Sanktionen gibt es im Energiesektor. Russland kann dort weiterhin erhebliche Einnahmen generieren. Dasselbe geschieht durch Exportkontrollen, die umgangen werden. „Da gilt es sicherlich nachzuschärfen“, sagt Benjamin Hilgenstock von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Das heißt nicht, dass wir jetzt unbedingt neue Sanktionen brauchen, die weitere Bereiche der russischen Wirtschaft betreffen. Sondern die Sanktionen in den Kerngebieten, die es schon gibt, die gilt es effektiver durchzusetzen.“
Probleme für Russland sieht Vasily Astrov bei der Erschließung von Erdgasvorkommen in Sibirien und der Arktis und bei der Produktion von Flüssiggas (LNG). In diesen Bereichen seien die Russen auf westliche Hochtechnologien angewiesen und ein erschwerter Zugang könnte gravierende Folgen haben - allerdings nur langfristig, für zehn Jahre oder noch länger, was für den Kriegsverlauf wahrscheinlich keine Rolle mehr spielen werde.
Wie werden die Sanktionen umgangen?
Die Wirksamkeit der Sanktionen wird reduziert, weil große Volkswirtschaften weiterhin Geschäfte mit Russland machen. Das Land verkauft nach wie vor Öl unter anderem nach China und Indien. Allerdings musste es auch niedrigere Verkaufspreise hinnehmen. Bei Gas ist es schwierig, die Transporte nach Asien umzuleiten, weil es nicht genug Pipelines gibt. Das hat zu gewissen Ausfällen bei den Einnahmen geführt, diese waren aber laut Vasily Astrov nicht dramatisch.
Russland läuft mit seinen großen Tankern weiterhin EU-Häfen an, lädt die Ladung dort auf kleinere Tanker um und transportiert sie nach Afrika und Asien. Dies soll nun verboten werden, was Russland zwei bis drei Milliarden Euro kostet. Doch das Land darf nach wie vor LNG ins EU-Netz einspeisen, nimmt damit acht Milliarden Euro ein.
Russland hat nach wie vor Zugang zu Technologiegütern dank China, Indien, einigen arabischen Staaten, der Türkei, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Armenien. Wenn Russland keine Mikrochips bestellen darf, dann bestellt es Waschmaschinen aus westlicher Produktion, um die nötigen Bauteile für die Steuerung von Drohnen zu bekommen.
Laut ukrainischem Präsidialamt beliefern etwa 250 westliche Unternehmen Russland indirekt mit Komponenten für Waffen. Das geschieht meist verdeckt, da die Hersteller nicht nachvollziehen können, wohin die Kunden die Produkte weiterverkaufen. Ein neues EU-Sanktionspaket sollte das verhindern, 26 Mitgliedsstaaten wollten die "No-Russia"-Klausel auf Tochterunternehmen ausweiten, die sich nicht in der EU befinden, doch die Bundesregierung hat das abgelehnt, weil der Aufwand zu hoch sein soll.
Sollten die Sanktionen verschärft oder abgeschafft werden?
Für eine Verschärfung der Sanktionen sieht Alexander Libman von der FU-Berlin nicht viel Potenzial. Erstens weil China und Indien sie wahrscheinlich nicht mittragen werden, zweitens weil unklar ist, wen die Sanktionen treffen, sowohl in Russland als auch im Westen.
Dennoch ist Libman nicht dafür, sie abzuschaffen - denn damit würde man ein Zeichen setzen, dass der Westen weniger entschlossen sei. Sanktionen seien eine Sackgasse: Sie erreichten die Ziele nicht, seien mit hohen Kosten verbunden, aber auch die Abschaffung sei problematisch.
Sanktionen schwach gegen autokratische Systeme?
"Sanktionen haben auch noch andere wichtige Funktionen“, betont hingegen Julia Grauvogel, Sprecherin des Forschungsteams Interventionen und Sicherheit am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in Hamburg. „Sie bekräftigen Völkerrecht, sie bekräftigen internationale Normen. Das ist nicht nur Symbolpolitik, sondern das ist wichtig."
Ein Rezept gebe es zwar nicht, aber man könne von bestimmten günstigen Bedingungen sprechen, so Grauvogel: „Sanktionen funktionieren besser im Stadium der Androhung.“ Sie funktionierten besser gegen kleine, wirtschaftlich schwächere Länder - und auch gegen Demokratien. Das aber ist Russland bekanntlich nicht.
leg