Sudak auf der Krim. So viel Aufmerksamkeit, wie heute Abend, bekommt das kleine Küstenstädtchen nur selten. Sänger aus ganz Osteuropa sind zu einem Wettbewerb gekommen, das Fernsehen überträgt live - von der Türkei bis nach Usbekistan. Die Teilnehmerin von der Krim trägt ein langes, weißes Kleid mit Spitze und einen Schleier. Und sie singt in einer Sprache, die fast 50 Jahre lang von der Krim verschwunden war. Fazile Ibrahimova ist Krimtatarin und gehört damit einem der sogenannten Turkvölker an. Ihre Sprache ist eng mit dem Türkischen verwandt. Sie schmettert eine Ballade, es geht um die Liebe – und sie gewinnt den Wettbewerb vor heimischem Publikum.
"Der Sieg bedeutet mir viel, besonders, weil es ein krimtatarisches Volkslied ist, ein Lied von der Krim hat auf der Krim gewonnen. Das ist das Wichtigste."
Wer verstehen will, warum die junge Sängerin so enthusiastisch ist, der muss die Vergangenheit ihres Volkes kennen. Denn ihr Sieg vor dem gemischten Publikum aus Ukrainern, Russen und Krimtataren ist keine Selbstverständlichkeit.
Im nächsten Frühjahr jährt sich die Deportation der Krimtataren zum 70. Mal. 1944 wurden etwa 200.000 von ihnen vom sowjetischen Geheimdienst in Zügen nach Zentralasien verfrachtet, jeder Dritte starb während des Transportes. Das muslimische Volk war ein Spielball in Stalins Umsiedlungspolitik. Ein Teil der Krimtataren hatte während der deutschen Besatzung mit der Wehrmacht kollaboriert, das diente Stalin als Begründung. Dass viele auch in der Roten Armee gekämpft hatten, das schien vergessen.
"Ich bin in der Nähe von Sudak geboren. Meine Familie und ich wurden nach Usbekistan deportiert, als ich ein kleines Baby war. Allah sei Dank: Von unserer Familie ist niemand gestorben."
Mustafa Dschemilev ist einer der bekanntesten Krimtataren. Er ist der Präsident der Nationalen Versammlung der Krimtataren in der Ukraine und sitzt außerdem im nationalen Parlament des Landes, der Rada in Kiew. Vor allem aber gründete er in den 60er-Jahren die krimtatarische Bürgerbewegung – im Untergrund. Sein politisches Engagement quittierte das Sowjet-Regime mit über 15 Jahren Gulag. Erst Ende der 80er-Jahre, während Glasnost und Perestroika, kehrten Dschemilev und viele Krimtataren in ihre Heimat zurück – nach fast 50 Jahren Verbannung.
Der Ai Petri ist einer der höchsten Berge der Krim. Eine große Seilbahn aus Sowjetzeiten bringt hier jedes Jahr viele Touristen hinauf. Die meisten von ihnen kommen aus Russland. Obwohl die Krim seit 1954 zur Ukraine gehört, sind noch immer rund 70 Prozent der Bevölkerung russischstämmig, nur 15 Prozent sind Krimtataren.
Der Krimtatare Reshad wurde in Taschkent in Usbekistan geboren. Sein Vater stammt aus dem Dorf Kökgöz, ganz in der Nähe. Sein Restaurant auf dem Ai Petri hat er daher Kökgöz genannt, Himmelsauge.
"In den ersten Jahren war es für uns Rückkehrer sehr schwer. Es gab keine Arbeit, keine Wohnungen, keine Aufenthaltserlaubnis. Wir hatten massive Probleme, an Bauland zu gelangen – wir waren für die Behörden Neuankömmlinge. Aber jetzt geht es Stück für Stück wieder aufwärts und dieser Berg ist eine Erfolgsgeschichte."
Doch die Überzeugung vieler Russen – die Krimtataren seien Verräter, die mit den Nazis kollaboriert hätten – hält sich beharrlich in den Köpfen vieler Krimbewohner und führt zu Ausgrenzung und Übergriffen. Von Russland kämen keine Versuche der Aussöhnung, sagt Präsident Mustafa Dschemlev, man habe schlicht keinen Kontakt.
Dass sich nun die Beziehung zwischen der Ukraine und der EU spürbar abkühlt, beobachtet Dschemilev mit Sorge.
"Es gibt zwei Optionen: Entweder, die Ukraine bewegt sich in Richtung Russland. Was dann passiert, kann man sich vorstellen. Wir hoffen aber immer noch, dass die Ukraine der EU beitritt. Mit den Standards der EU haben wir als Minderheit höhere Chancen."
Im Mai 2014 laden die Krimtataren zu einem großen Kongress und einer Gedenkfeier, 70 Jahre nach der Deportation. Russische Offizielle haben sich bisher nicht angemeldet.