Die wirtschaftliche Lage der Bürger im Osten der Ukraine sei nach wie vor schwer, so Savin im DLF. Dazu trage auch bei, dass dort das Finanzsystem nicht funktioniere. Banken seien nicht geöffnet und Renten würden nicht ausgezahlt - teilweise auf Anweisung der Regierung in Kiew. Dadurch hätten viele Menschen kein Geld zum Leben.
Hinzu kommt nach Savins Ansicht, dass das Geld immer knapper wird, weil der Wechselkurs steigt: "Alle Menschen sind eigentlich Verlierer, weil sie immer weniger Mittel haben fürs Leben, weil die Kaufkraft der Nationalwährung sinkt."
Savin unterstützte im Deutschlandfunk die Forderung des ukrainischen Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk nach internationalen Hilfsgeldern. Die Ukraine brauche sicher finanzielle Unterstützung von außen, sagte er. Komme keine Hilfe, müsse die Ukraine den Staatsbankrott erklären. Im Austausch für Fördergelder empfiehlt Savin, klare Bedingungen zu formulieren, welche Reformen durchgeführt werden müssen.
Bisher erhält die Ukraine vom Internationalen Währungsfonds Hilfskredite im Umfang von 17 Milliarden Dollar.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Wir wollen uns mit der Ukraine beschäftigen. Der dortige Ministerpräsident Jazenjuk hatte eine Art Hilferuf gestartet unter der Überschrift, ich mache es jetzt in der Kurzfassung: Wenn wir nicht bald viel Geld bekommen, sind wir pleite. Und was das bedeutet, das hat er auch nicht offen gelassen, da hat er gesagt: Dann wird unser Land kaum eine Chance zum Überleben haben. Auf der anderen Seite gibt es viel Korruption, alltägliche Korruption. Und danach muss man fragen, wie sieht es dort aus?
(Ukraine-Konflikt - Bürger im Osten kommen kaum noch an Geld, von Florian Kellermann, Informationen am Morgen)
Wir wollen beim Thema bleiben und darüber auch reden mit Kyryl Savin, für die Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Zunächst einmal guten Morgen, Herr Savin!
Kyryl Savin: Guten Morgen aus Kiew, hallo!
Zurheide: Zunächst einmal, Ministerpräsident Jazenjuk, ich habe es vorhin angesprochen, hat gesagt: Wenn wir nicht dringend Geld bekommen, 15 Milliarden US-Dollar waren es, glaube ich, dann sind wir pleite. Wie ist denn die wirtschaftliche Lage im Moment in dem Land?
Savin: Also, die wirtschaftliche Lage bei ganz normalen Menschen ist nach wie vor schwer, aber man sieht es ja von außen nicht, dass es ganz, ganz so schlimm ist. Natürlich, man sieht ja fast täglich die Abwertung der Nationalwährung, es ist mittlerweile schon fast 100 Prozent abgewertet im Vergleich zum Vorjahr. Und dieser Prozess dauert, die Wirtschaft funktioniert schlecht, die Arbeitslosenzahl steigt ja gewaltig. Das sind alles Prozesse, die man von außen sieht. Aber was da drinnen, in den staatlichen Finanzen ist, weiß ja nur die Regierung, der Premierminister. Und seine Rede diese Woche hat ja gezeigt, dass die Lage offensichtlich ziemlich dramatisch ist.
"Das Finanzsystem funktioniert so weit ziemlich normal"
Zurheide: Die Menschen - wir haben es gerade in dem Beitrag gehört, aber Sie haben es auch angesprochen, aber ich will es noch mal im Moment vertiefen -, was heißt das? Man muss sich das vorstellen, Banken sind nicht geöffnet, Renten werden nicht ausgezahlt, zumindest in dem Teil, der jetzt möglicherweise abgespalten oder was auch immer ist. Aber wie sieht es denn in dem Teil aus, der noch Ukraine ist?
Savin: Also, im ukrainischen Gebiet, ich rede sozusagen von der ganzen Ukraine, aber nicht über Krim und nicht über besetzte Gebiete im Donbass, funktioniert das Finanzsystem so weit ziemlich normal. Die Renten werden ausgezahlt, Stipendien werden ausgezahlt, Sozialhilfe wird ausgezahlt, das ist eher kein Problem. Nur, das Geld wird immer knapper sozusagen, denn der Wechselkurs steigt und alle Menschen sind eigentlich Verlierer. Weil sie immer weniger sozusagen Mittel haben fürs Leben, weil die Kaufkraft der Nationalwährung sinkt. Das ist eher das Problem. Und in besetzten Gebieten, in der Tat, wie in Ihrem Bericht zu hören war, da funktioniert das Bankwesen grundsätzlich nicht. Und die Regierung hat beschlossen, die Leute nicht mehr sozial zu versorgen. Sprich, die Renten werden nicht ausgezahlt, Sozialhilfen werden nicht ausgezahlt in besetzten Gebieten. Und selbst wenn sie in die ukrainischen Gebiete reisen, um an diese Zahlungen der Stadt heranzukommen, kriegen sie eine Absage, weil die Regierung beschlossen hat, dass nur diejenigen diese Sozialhilfen, Renten et cetera bekommen, die umgesiedelt sind sozusagen, die nicht mehr in Volksrepubliken wohnen, sondern auf das ukrainische Gebiet permanent umgesiedelt sind.
"Sicherlich braucht die Ukraine Finanzunterstützung von außen"
Zurheide: Jetzt haben Sie gesagt, die Lebenshaltungskosten steigen, die Kaufkraft sinkt. Auf der anderen Seite, die Militärausgaben sind wieder gesteigert worden, sie beinhalten inzwischen fünf Prozent der wirtschaftlichen Leistungen, das ist wesentlich mehr als wir kennen. Ja, da wandert das Geld hin?
Savin: In der Tat. Allerdings, diese fünf Prozent, das ist noch ein Entwurf des Haushaltsgesetzes für nächstes Jahr. Aber Militärs wollen noch mehr als fünf Prozent. Es gibt großen Bedarf dann an Geld, um die Außenverschuldung der Ukraine zu bedienen und so weiter. Und sicherlich, auch die Reformen, die man so erwartet in der Ukraine, sie werden auch Geld kosten. Und das alles gibt es ja im Moment nicht. Deswegen ist die Lage so dramatisch, wie auch der Premierminister beschrieben hat. Und diese 15 Milliarden, ich kann schwer einschätzen, ob das eine realistische Zahl ist oder nicht, aber sicherlich braucht die Ukraine Finanzunterstützung von außen.
Zurheide: Zumal im kommenden Jahr zu Beginn noch mal ein Kredit auch der Russen ausläuft, und das ist ja dann quasi, ja, die Russen werden ihn kaum verlängern, also wird der Westen das übernehmen müssen, oder?
Savin: Ja, müssen ist eine gute Frage. Sicherlich, die Ukraine braucht Unterstützung. Der Westen muss ja nicht, aber andererseits, wenn keine Finanzhilfe vom Westen kommt, dann wird die Ukraine wahrscheinlich Staatsbankrott erklären müssen. Denn anders kann ich mir nicht vorstellen, woher diese Mittel kommen. Was Staatsbankrott bedeutet, kann man jetzt ja lange spekulieren, aber sicherlich wird es nichts Gutes sein, weder fürs Land noch für die Menschen, die hier im Lande leben.
"Die Korruption ist da"
Zurheide: So, jetzt schlagen wir die Brücke zu dem anderen Thema, was ja eigentlich zusammenhängt. Die wirtschaftliche Lage, haben wir gerade gehört, ist katastrophal auf der einen Seite, auf der anderen Seite gibt es nach wie vor eine Korruption, die mit Händen zu greifen ist. Ich habe hier verschiedene Berichte vorliegen: Wenn Sie ins Krankenhaus wollen, wenn Sie im Arztsystem sind, im Bildungssystem, egal wo, überall müssen Sie Cash zahlen. Da hat sich offensichtlich nichts oder wenig geändert. Ist das eine zu harte Darstellung oder ist es genau so?
Savin: Nein, das ist genau so, das kann ich bestätigen. Ich lebe hier und es ist tatsächlich, wenn ich mein Kind in den Kindergarten bringe, da muss man immer monatlich zuzahlen. Das heißt eigentlich freiwillige Leistung sozusagen der Eltern, aber de facto ist es nicht freiwillig. Denn wenn du nicht zahlst, dann, ja, dann wird dein Kind sozusagen anders behandelt als alle anderen Kinder. Genauso in Krankenhäusern und so weiter. Die Korruption ist da, es ist bis jetzt wenig passiert, denn die Regierung spricht ja nur über die Reformierung und so weiter, aber noch ist nichts umgesetzt. Und Sie haben ja wirklich recht, das ist ein Widerspruch: Man fragt nach Geld und gleichzeitig ist Korruption allgegenwärtig und dieses Geld verschwindet wahrscheinlich wie Wasser im Sand. Deswegen, meine Empfehlung wäre ziemlich einfach, und die ist bekannt: Das nennt sich, einfach klare Bedingungen formulieren sozusagen. Wenn der Westen Mittel gibt für irgendwas, dann müssen auch die Bedingungen formuliert werden und die Ukraine muss was machen. Die ukrainische Regierung muss ja was machen, muss ja Reformen durchführen, und zwar nicht theoretisch, nicht auf dem Papier, sondern auch praktisch, dass sich was ändert hier im Lande.
"Teufelskreis muss jetzt endlich gebrochen werden"
Zurheide: Ich will das um Gottes willen nicht rechtfertigen, aber wir haben ja die schwierige Lage, dass die Menschen offensichtlich von dem, was sie an Geld bekommen auch im Staatsdienst, nicht leben können. Dass sie sozusagen für sich auch subjektiv das Gefühl haben, na ja, wenn ich mir nicht zusätzlich durch Korruption was verdiene, dann kann es überhaupt nicht funktionieren, weil die Gehälter so niedrig sind, und wir alle wissen, die Belastungen werde höher, weil man mehr für Energie bezahlen muss und so weiter und so weiter. Ist das nicht ein Teufelskreis?
Savin: Ja, sicher ist das ein Teufelskreis. Aber in so einem Zustand lebt die Ukraine seit Jahren. Zum Beispiel, die Gehälter im staatlichen Dienst sind tatsächlich sehr niedrig, das weiß jeder, das weiß ja auch jeder, dass sie quasi zuverdienen müssen durch die Korruption. Und das hat man fast kalkuliert, glaube ich, wenn man die Gehaltsgröße da festgelegt hat. Dieser Teufelskreis muss jetzt endlich gebrochen werden, es muss eine Reform sein, auch administrative Reform, dass die Beschäftigung im staatlichen Dienst jetzt völlig anders organisiert wird, und vor allem, dass die Gehälter steigen, wahrscheinlich bei gleichzeitiger Kürzung des Personals im staatlichen Dienst. Nur das ist der Ausweg. Und natürlich ist es nicht populär, natürlich wird es heißen, dass einige oder einige Tausende oder vielleicht sogar Hunderte von Tausend ihre Jobs verlieren, aber leider geht der Weg nicht daran vorbei.
"Die ganze Gesellschaft wartet auf diese Reform"
Zurheide: Letzte Frage mit der Bitte um kurze Antwort: Sehen Sie jemanden, der die politische Kraft hat, das durchzusetzen angesichts der Auseinandersetzungen, die da gerade sind?
Savin: Ich glaube, es gibt im Parlament zumindest einen guten Kern, der sehr reformorientiert ist. Das sind vor allem diese neuen Leute aus der Maidan-Revolution, das ist ja nicht sehr viel, aber die sind der Motor der Entwicklung. Und die ganze Gesellschaft wartet auf diese Reform. Wenn sie nicht kommt, dann wird die ukrainische Politik es sehr schwer haben.
Zurheide: Danke schön! Das war Kyryl Savin für die Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Auch wenn es schwierig war und wir sehen, wie viel und wie weit der Weg da noch ist, bedanke ich mich herzlich für die Information! Danke schön, Herr Savin!
Savin: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.