Auf der einen Seite verurteile Bundeskanzlerin Angela Merkel bei jeder Gelegenheit die völkerrechtlichen Verstöße Russlands, so Segbers. Auf der anderen vermeide sie es, sich für weitere Sanktionen auszusprechen. Laut dem Osteuropaexperten von der Freien Universität Berlin würde "eine konsequentere Politik der Sache gut tun".
Die russische Führung habe erkannt, dass ihre bisherige Politik "in die Sackgasse" führt - und denke deshalb nun um. Grundsätzlich verfolgt Moskau Segbers zufolge "drei Zielmarken": Man wolle die Schwarzmeerhalbinsel Krim behalten, auch in Zukunft Einfluss auf die Ausrichtung der Ukraine haben und im EU-Plan vorgesehene Sanktionen der dritten Stufe vermeiden. In den kommenden Monaten sei eine Mischung in der russischen Politik zu erwarten, die diese drei Ziele im Blick halten wolle. "Was das konkret heißt, hängt auch davon ab, wie sich die westliche Politik aufstellt und was der neue ukrainische Präsident gestaltend tun wird."
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Ein Händedruck, ein kurzes Gespräch zwischen Putin und Poroschenko gestern beim D-Day. Ist das der Anfang vom Ende der Feindseligkeiten?
Klaus Segbers: Es könnte sein, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen einen Weg erkennen, der hinführt, weg von den vor allen Dingen gewaltförmigen Auseinandersetzungen in der Ukraine, und möglicherweise mittelfristig auch zu einer Lösung. Aber der Grund dafür, wenn es denn so käme, wird sicher nicht ein Händedruck sein, sondern dass diejenigen in der russischen Führung, die bisher diese Politik betrieben haben und betreiben, allmählich erkennen, dass er sie, die Russen selber, in eine Sackgasse führen könnte, und dass sie deshalb begonnen haben, umzudenken.
Dobovisek: Ist es dann das richtige Signal, dass Poroschenko heute bei seiner Antrittsrede ausgesandt hat - die Krim war und bleibt ukrainisch - ist das das richtige Signal?
Segbers: Das ist ja nur ein Signal von mehreren, die er gegeben hat. Es gab ja auch andere Signale, zum Beispiel, dass jeder in der Ukraine das Recht haben sollte, nach seinen eigenen historischen Erfahrungen, Orientierungen, Werten, Heldengeschichten zu leben. Das ist ganz wichtig, dass die russische Sprache nicht diskriminiert werden soll, es ist ebenfalls sehr wichtig, dass es keine Ukrainer erster und zweiter Klasse geben soll - das ist ebenfalls sehr wichtig. Aber es gehört auch dazu, zu sagen, dass es in einer europäischen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg - Entschuldigung, nach dem Kalten Krieg - einer neuen Sicherheitsordnung, die wir aufgebaut haben, nicht möglich sein darf, dass ein Land ein garantiertes Stück eines anderen Landes einfach sich aneignet. Insofern, denke ich, musste er das sagen, und er hat es auch gesagt.
"Die Ukraine wird das nicht anerkennen können"
Dobovisek: Aber muss Poroschenko, muss die Ukraine, muss auch Europa am Ende akzeptieren, dass die Krim nicht mehr Teil der Ukraine ist, um überhaupt einen Schritt weiter zu kommen?
Segbers: Die Ukraine wird das nicht anerkennen können, und ich denke, dass auch Europa sehr gut beraten wäre, das nicht anzuerkennen völkerrechtlich. Das ist die eine Dimension. Wir erinnern uns, dass ja auch die Zweistaatlichkeit Deutschlands über einen sehr langen Zeitraum formal-völkerrechtlich nicht anerkannt worden ist und sich hinterher doch noch eine Lösung gefunden hat. Das bedeutet nun aber nicht, dass man nun jeden Tag und jede Woche aktiv darauf hinarbeiten kann, wenn die Umstände es nicht zulassen. Also ich denke, es gibt einmal die Ebene dessen, was kann kurzfristig erreicht werden, und es gibt auf der anderen Seite dann die Ebene, was muss man, was kann man, was darf man formal anerkennen oder nicht.
Dobovisek: Ist Poroschenko Präsident der gesamten Ukraine?
Segbers: Wir haben alle, auch in der Ukraine, aber auch außerhalb der Ukraine ja mit einem gewissen Erstaunen festgestellt, dass er in allen Regionen in der Ukraine, wo diese Wahlen stattfinden konnten - zwei waren bekanntlich nicht dabei Donezk, und Lugansk - eine Mehrheit erworben hat im ersten Wahlgang, und insgesamt über die ganze Ukraine mit 55, 56 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Das ist ein Ergebnis, das aus seiner Sicht besser ausgefallen ist als erwartet, und auf diesem Ergebnis kann er durchaus aufbauen und versuchen, zu einer integrativen Politik der Ukraine beizutragen. Er wird künftig gemessen werden an dem, für das er gewählt wurde, und zweitens an dem, was er heute gesagt hat.
"Wirtschaftliche Sanktionen wirken, bevor sie erlassen wurden"
Dobovisek: Wird Russland damit dann aufhören, am Osten der Ukraine zu zerren? So ist das ja zumindest der Eindruck, den Kiew hat.
Segbers: Das könnte sein, wenn die Aufmerksamkeit, die internationale, die politische und die mediale nicht wieder wegschwenkt, wie das so oft der Fall ist, wenn gerade aktuell nichts irgendwo in die Luft fliegt. Und es scheint sehr deutlich geworden zu sein schon in den letzten Wochen, dass die möglichen Sanktionen der sogenannten dritten Stufe, also nicht mehr Kontosperrungen für einzelne Politiker oder Reiseverbote, Visaverweigerungen, sondern wirtschaftliche Sanktionen gegen ganz Sektoren einer Volkswirtschaft, dass die schon begonnen hat zu beißen, bevor sie offiziell erlassen und verkündet wurden. Und das partielle Nachgiebigersein, Freundlicher-Auftreten, kompromissbereite Auftreten des russischen Präsidenten erklärt sich für mich vor allen Dingen vor dem Hintergrund an der bisherigen russischen Linie vor allen Dingen Russland selber wirtschaftlich schaden würde.
Dobovisek: Hat denn Russland das erreicht, was es bisher wollte?
Segbers: Für die sehr enge Führung in der russischen Autokratie gibt es aus meiner Sicht drei Zielmarken, drei Orientierungen, die man verfolgt. Das Erste, die Krim behalten zu können, vor allen Dingen auch, ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen. Das Zweite: auch in Zukunft Einfluss zu haben auf die internationale Ausrichtung der Ukraine, das heißt wirtschaftspolitisch, also EU, das heißt aber auch vor allen Dingen auch sicherheitspolitisch, was einen möglichen NATO-Beitritt angeht. Und das heißt drittens, die Sanktionen der dritten Stufe zu vermeiden, und wir werden auch in den kommenden Wochen und Monaten immer eine Melange, eine Mischung sehen in der russischen Politik, die versucht, diese drei Ziele alle im Blick zu behalten. Was das konkret heißt, hängt auch sehr davon ab, wie westliche Politik sich aufstellt und weiter verhält und was der ukrainische Präsident gestaltend tun wird.
Dobovisek: Gestalten will er vor allem in eine Richtung: Er will die Ukraine in die Europäische Union führen, will, dass die Ukraine Mitglied der Europäischen Union wird. Wie realistisch ist das?
Segbers: Ich denke, dass die EU generell gut daran tut, an ihrer grundsätzlichen Linie festzuhalten, dass die EU Türen nicht zuschlägt. Weil wenn sie das täte für ein konkretes Land, egal ob das die Türkei ist oder ob das die Ukraine wäre, würde das die Reformer in den betroffenen Ländern entmutigen. Und das wäre auch für das Volk, für die Bevölkerung nicht gut. Das bedeutet aber nicht, dass wir hier reden über einen Beitritt im Frühjahr 2015, sondern das bedeutet zunächst ein Signal, dass grundsätzlich ein Beitritt nicht ausgeschlossen wird, auch nicht von der EU, auch nicht in Brüssel. Aber wir reden da über andere Zeiträume, nicht über so kurzfristige. Und diese Politik, denke ich, ist sehr wohl realistisch, weil sie dann die betroffenen Länder in die Lage versetzt, allmählich die Anpassungsprozesse vorzunehmen, die Umsetzungsprozesse für europäisches Recht vorzunehmen, die schon vor einem Beitritt erfolgen müssen, um dann irgendwann, in ein paar Jahren vielleicht, ernsthafter darüber reden zu können.
EU-Mitgliedschaft nicht ausschließen
Dobovisek: Aber wäre es nicht möglicherweise gefährlich, die Ukraine in die EU weiter zu integrieren, sie möglicherweise als Mitgliedsstaat aufzunehmen und damit Moskau weiter zu verärgern? Ist ein Assoziierungsabkommen nicht da der bessere Weg?
Segbers: Ich glaube nicht, dass die EU gut beraten wäre, die mögliche Mitgliedschaft und mögliche Mitgliedsverhandlungen mit Interessenten, die dafür dann irgendwann geeignet erscheinen, abhängig zu machen von der Zustimmung oder Ablehnung dritter Länder. Das war bisher nicht die Politik und das sollte es auch nicht sein. Wie Sie es gesagt haben: es gilt aber auch, dass man darauf achten muss, dass Wirtschaftsinteressen anderer Länder - ich nenne ein Beispiel, zum Beispiel das Interesse Russlands, auch weiter Motoren für bestimmte Rüstungsgüter in der Ukraine bauen lassen zu können und kaufen zu können - gewahrt bleiben. Man muss sehen, dass dadurch anderen Ländern kein unzumutbarer Nachteil entsteht. Ich glaube, wenn das gewährleistet wäre, dann wird es auch möglich sein, in ein paar Jahren ernsthafter über eine stärkere ukrainische Annäherung an die EU zu reden, ohne dass Russland legitime Interessen dabei aufgeben muss.
Dobovisek: Schauen wir uns dabei mal die Rolle der Bundesregierung an. Bundespräsident Gauck war heute in Kiew, das erste Mal, dass er als Präsident an der Amtseinführung eines Kollegen teilnahm. Am Dienstag fliegt Bundesaußenminister Steinmeier erstmals seit langer Zeit wieder nach Russland. Ansonsten tritt die Bundesregierung bei Sanktionen gegen Russland weiter auf die Bremse. Macht Deutschland damit eine gute Figur?
Segbers: Na ja, ein Land, also auch Deutschland, macht immer dann eine gute Figur, wenn es konsistent ist, also wenn es dieselben Nachrichten, Mitteilungen, dieselben Positionen wiederholt und nicht hin und her wechselt. Und hier können wir schon beobachten über die letzten Wochen, dass die Kanzlerin selber mehrfach im Bundestag vor allen Dingen sehr deutliche Reden hält mit der Adresse Russland, dass bestimmte Dinge nicht akzeptabel sind im Europa des frühen 21. Jahrhunderts, und dass sie manchmal aber auch sagt, na ja, wenn es unbedingt sein muss, müssen wir Sanktionen, stärkere Sanktionen ergreifen, aber eigentlich wollen wir das nicht. Das ist aus meiner Sicht nicht besonders überzeugend.
Und nach dem, was ich vorhin versucht habe zu erklären, dass die veränderte russische Position, wenn es denn dabei bleibt, viel damit zu tun hat, vor der Sorge, dass in der Tat ernstere Sanktionen noch vom Westen ergriffen werden könnten, die dann nicht so sehr der Bevölkerung, sondern dieser Gruppe von russischen Bürokraten und Politikern wehtäten, die vor allen Dingen an den Energieexporten Russlands hängen und die Renten daraus kassieren. Das ist ein Zusammenhang, der klar sein muss. Und das, würde ich denken, würde schon ein guter Grund dafür sein, dass die EU insgesamt, zusammen mit den USA, eine konsistente Politik verfolgt im Bereich der Sanktionen. Wenn Russland nicht aufhört mit der Einmischung in der Ostukraine, dann kann es sehr wohl sein, dass diese Sanktionen eskaliert werden, wenn die russische Politik sich wandelt, werden sie nicht eskaliert. Ich glaube, dieser Zusammenhang wirkt jetzt schon, und wenn deutsche Politik hier zielgerichtet, konsequent auch nach außen, auch öffentlich dies vertreten würde, würde das der Sache, denke ich, guttun.
Dobovisek: Tut die Bundesregierung all das, was sie könnte im Rahmen ihrer Möglichkeiten?
Segbers: Das ist schwer zu beurteilen, weil von außen muss man ja immer auch zugestehen, dass ein Politiker, die Kanzlerin, die Außenminister nicht 24 Stunden am Tag sich mit Ukraine und Russland beschäftigen können. Da gibt es viele andere Aufgaben, die zu erledigen sind. Man könnte sich immer das eine oder andere wünschen, was noch besser gemacht werden könnte, aber im Großen und Ganzen, denke ich, ist das schon etwas, was man sich anschauen kann. Wie gesagt, ich würde mir wünschen, dass vor allen Dingen innerhalb der Europäischen Union die Abstimmung noch besser wäre und dass die Bilateralisierung, die der russische Präsident Putin versucht, also immer eher mit einzelnen EU-Mitgliedern zu sprechen und nicht so sehr mit der EU insgesamt, dass dem stärker noch widerstanden würde aus Sicht der EU und dass eine einheitliche, konsistente, konsequente Position erarbeitet und danach durchgehalten wird, unter deutscher Beteiligung.
Dobovisek: Der Politikwissenschaftler Klaus Segbers über den Amtsantritt Poroschenkos in der Ukraine und die damit verbundenen Hoffnungen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Segbers: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.