Jürgen Liminski: Offen ist der Ausgang der Krise in der Ukraine. Sie schwankt zwischen diplomatischer und militärischer Suche nach Lösungen. Heute überwog die Gewalt. Die angesetzten Friedensgespräche fanden nicht statt, dafür wurde geschossen.
Droht nun ein offener Kriegsausbruch? Gibt es noch eine Chance auf eine politische Lösung? Was kann Europa tun, um das Blutvergießen an seiner Ostgrenze zu beenden? Zu diesen Fragen begrüße ich Professor Gerhard Simon vom Slawischen Institut der Universität Köln. Guten Abend, Herr Professor Simon.
Gerhard Simon: Guten Abend.
Liminski: Herr Simon, wieder keine Friedensgespräche in Minsk, aber die schwersten Kämpfe in der Ostukraine seit Langem. Gibt es noch eine Chance für eine friedliche politische Lösung des Konflikts?
Simon: Es gibt eine Chance. So wie es in der Vergangenheit ne gegeben hat, so wird es auch in der Zukunft eine geben Dass die Gespräche heute nicht zustande gekommen sind, ist ja nicht zufällig und dahinter ist ja durchaus eine Rationalität. Und dass gleichzeitig die Kämpfe immer intensiver werden, das hat ja auch damit zu tun, und zwar insofern, als die Separatisten ganz offensichtlich seit ein, zwei Wochen versuchen, ihre Ausgangslage, ihre militärische Ausgangslage für die Gespräche zu verbessern.
"Kämpfe und abgesagte Friedensgespräche haben Methode"
Oder anders gewendet - sie haben das ja auch offen gesagt die Separatisten - sie sind nicht mehr bereit, die Verabredungen vom September zu akzeptieren. Damals wurde eine Waffenstillstandslinie festgelegt. Die – so sagen die Separatisten – gilt jetzt nicht mehr, weil die Kämpfe fortgesetzt worden sind, weil wir heute eine andere, wie sie sagen, Waffenlinie haben und wir sind nur bereit, die neue Waffenstillstandslinie zu akzeptieren, nicht mehr das, was im September war.
Die ukrainische Seite sagt im Gegenteil: Nein, wir sind nicht bereit zu akzeptieren, dass die Separatisten weiter vorgerückt sind und nun zusätzliches Territorium für sich beanspruchen. Mit anderen Worten: Die Kämpfe und die nicht stattgefundenen Friedensgespräche gehen nicht darauf zurück, dass da irgendwelche technischen Probleme das verhindern, sondern das hat Methode.
Liminski: Aber ohne die Hilfe Russlands wären die Separatisten doch verloren. Moskau nun hat eine neue Militärdoktrin und sieht im Konflikt in der Ukraine eine Gefahr für seine Sicherheit. Wird Moskau den offiziellen Einmarsch in die Ostukraine und damit den Konflikt mit Europa riskieren, indem es den Separatisten weiter hilft?
Simon: Ein offener Einmarsch, eine massive Ausweitung der Kriegshandlungen erwarte ich nicht. Ausschließen kann niemand das, glaube ich, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich. Wenn Russland das gewollt hätte, da hätten sich im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres Gelegenheiten ergeben. Offensichtlich ist Russland nicht bereit und auch nicht daran interessiert, den verdeckten, eher als Geheimdienstaktion geführten Krieg umzuwandeln in einen offenen direkten Krieg mit dem Einsatz großer regulärer Verbände gegen die Ukraine.
Das würde nämlich einen vollkommenen Bruch mit dem Westen bedeuten, mit gewaltigen auch schweren wirtschaftlichen Konsequenzen für Russland, und dazu, so ist meine Einschätzung, ist Russland gegenwärtig nicht bereit.
"USA und Europa können nicht mit Zauberstab neue Realitäten schaffen"
Liminski: Die Ukraine setzt auf Brüssel, aber auch auf Washington als Verbündeten. Könnten die USA vielleicht mäßigend auf Moskau einwirken oder ist da noch weniger Verständnis für die Einkreisungsängste Russlands zu erwarten als in Brüssel?
Simon: Die Vereinigten Staaten sind an vielen Stellen der Welt engagiert Jedenfalls in den letzten Wochen und Monaten hatte man den Eindruck, dass die ganze Krise und Auseinandersetzung in der Ukraine für die Vereinigten Staaten nicht oberste Priorität ist. Ob sich das ändern wird, bleibt abzuwarten. Die ukrainische Führung möchte gerne, dass die USA sich stärker engagieren und dass man gemeinsam auf Moskau einwirkt. Deswegen fordert die ukrainische Seite Gespräche nach dem sogenannten Genfer Format.
Das waren die Gespräche, die im vergangenen Jahr stattgefunden haben unter Einbeziehung Russlands und der Vereinigten Staaten. Am Ende haben auch die nichts gebracht. Wichtig ist schon, dass die Vereinigten Staaten sich engagieren. Zu glauben oder zu erwarten, dass die Vereinigten Staaten mit einem Zauberstab da neue Realitäten schaffen können, das ist sicherlich unrealistisch.
Liminski: Heute Abend treffen Kanzlerin Merkel und Staatspräsident Hollande in Straßburg zusammen. Was können die beiden, was kann Europa tun, um Moskau zum Einlenken zu bewegen?
"Russland ist dabei, aus dem europäischen Haus auszuziehen"
Simon: Ja, wenn ich darauf eine Antwort hätte, würde ich die gerne Ihnen und den Hörern weitergeben. Ich habe keine und ich fürchte, auch Präsident Hollande und die Bundeskanzlerin haben auch keine Zauberformel in der Hand, um dort neue Realitäten zu schaffen. Es bleibt dabei - und das ist ja auch sinnvoll, dass gleichzeitig versucht wird, auf diplomatischer Ebene die Gespräche voranzubringen, die Gesprächskanäle offenzuhalten und aber andererseits Russland deutlich gemacht wird, dass Russland sozusagen dabei ist, aus dem europäischen Haus auszuziehen.
Wir wollen das nicht, wir können daran nicht interessiert sein, wir müssen aber Russland deutlich machen, dass wir mit so einem Nachbarn einfach zusammen nicht leben können, dass dieser Nachbar Russland zurückkehren muss zu den Vorstellungen von Politik, die im letzten halben Jahrhundert den Frieden in Europa möglich gemacht haben.
Liminski: Zu den diplomatischen Bemühungen in der Ukraine-Krise gibt es offenbar keine Alternative, sagt Professor Gerhard Simon vom Slawischen Institut der Universität Köln, hier im Deutschlandfunk. Besten Dank für das Gespräch, Herr Professor.
Simon: Gerne und einen guten Abend.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.