Ein Reisebus nach dem anderen hält auf dem kleinen Platz zwischen Buden mit Essen und Getränken. Auf einem großen Betonpfeiler prangt das Wappen des Ortes: Stanyzja Luhanska. Eine Kleinstadt tief im Osten der Ukraine, die durch den Krieg zum Grenzort wurde.
Larissa, eine schlanke blonde Frau, Mitte 30, hievt eine schwere Plastiktasche aus einem Bus. Ihr Mann und ihre Mutter sind bereits mit dem restlichen Gepäck vorgegangen – in Richtung Checkpoint. Sie aber wartet, bis sie ihre drei Kinder beisammen hat. "Wir haben gerade Reisepässe für die Kleinen beantragt. Wir sind jetzt häufiger in Lissitschansk. Aber sonst arbeiten und wohnen wir in Altschewsk. Dort habe ich meine Arbeitsstelle, mein Zuhause und alles."
Bürokratie erledigen auf ukrainischer Seite. Leben in der selbsternannten Volksrepublik. Für Larissa und ihre Familie ist das seit mehr als fünf Jahren Alltag. "Ich habe mit meinen Kindern die halbe Ukraine bereist. Und Keiner konnte mir eine Arbeitsstelle oder eine Unterkunft bieten. Sie öffneten meinen Pass, sahen, wo ich registriert bin und dann hieß es nur noch "Auf Wiedersehen". Und deshalb pendeln wir weiter."
Riss durch die Gesellschaft
Seit die Truppen hier, in Stanyzja Luhanska im Sommer abgezogen wurden, sei vieles besser geworden, erklärt Larissa. Es gebe mehr Busse für die Pendler, die Schlangen an den Checkpoints seien nicht mehr so lang und auch die Stimmung habe sich deutlich entspannt. Und trotzdem ist das für sie alles andere als normal. "Wissen Sie: die Territorien wurden geteilt und damit auch die Menschen. Wir waren vereint und hätten es auch bleiben sollten. Jetzt müssen wir leiden, weil die Politiker immer alles besser wissen."
Dass der Krieg nicht nur den Osten der Ukraine zerteilt, sondern auch die Menschen voneinander entfernt, ist entlang der mehr als 400 Kilometer langen Konfrontationslinie deutlich spürbar. Das sagt auch Valentina, die mit ihrer 91jährigen Mutter über den Checkpoint gekommen ist. "In Luhansk und Donetsk wohnen doch keine Terroristen, keine Okkupanten, wie sie immer sagen. Dort wohnen ganz einfache, ganz normale Menschen. Wenn die Ukraine wirklich Frieden stiften will, dann muss sie all dies beenden, Kompromisse eingehen und einen Dialog führen."
Doch genau diese, auf Dialog und Annäherung setzende Politik des neuen Präsidenten Selenskyj, ruft in der Ukraine nicht nur positive Reaktionen hervor. Dabei betont er, der bereits im Wahlkampf versprochen hatte, den Krieg im Osten so schnell wie möglich zu beenden, dass es ihm vor allem um die Menschen gehe. Darum, ihnen trotz der politischen Lage, das alltägliche Leben zu erleichtern.
Erst vor kurzem hat er selbst Stanyzja Luhanska besucht. Um dort die neue Brücke zu eröffnen, die sich zwischen den Checkpoints beider Konfliktparteien befindet – und deren Bau erst durch den beidseitigen Truppenabzug möglich wurde.
Wolodymyr Selenskyj sagte in Stanyzja Luhanska: "Das Wichtigste ist, dass in den drei Orten, in denen der Truppenrückzug stattgefunden hat – in Stanyzja Luhanska, in Solote und Petriwske – nicht geschossen wird. Aber ich möchte auch allen Militärangehörigen und Freiwilligen danken, die heute dabei helfen, unser Land zu verteidigen und unsere Grenzen zu schützen."
"Keine Kapitulation"
Insgesamt hat der Krieg im Osten bereits mehr als 13.000 Menschenleben gefordert. Dass das tägliche Blutvergießen aufhören müsse, darin sind sich fast alle einig. Doch die Gruppe derer, die findet, dass Wolodymyr Selenskyj mit seiner Politik in die falsche Richtung geht, dass er die Menschen entlang der Konfrontationslinie mit dem Abzug der Truppen eher in Gefahr bringe als ihnen zu helfen, die hat sich in den vergangenen Wochen immer wieder Gehör verschafft.
Konstantin Reutskij ist extra die mehr als 700 Kilometer nach Kiew gefahren, um an einer der ersten Demonstrationen unter dem Motto "Keine Kapitulation" teilzunehmen.
Der junge Mann, der selbst aus dem besetzten Luhansk stammt, ist Mitbegründer der Hilfsorganisation SOS Vostok, die sich für die Rechte von Flüchtlingen aus dem Donbass einsetzt. Seine Hauptkritik an Selenskyjs Politik: "Er hat in seinem Team niemanden, der eine Vorstellung von der wirklichen Lage hier hat. Und deshalb neigen sie zu solchen vereinfachten Entscheidungen, die unserer Meinung nach schlimme Folgen haben können. Und sein Team sieht diese Risiken einfach nicht."
Konstantin Reutskij glaubt, dass zudem jedes noch so kleine Zugeständnis an Russland vom Kreml als Schwäche der Ukraine ausgelegt würde Reutskij fordert daher noch schärfere Sanktionen – auch vonseiten der EU – anstelle von Kompromissen.