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Kommentar zum Gipfel in Vilnius
Keine NATO-Beitrittsperspektive während des Krieges

Eine vage Einladung ohne Zeitplan: Aus Sicht der Ukraine ein ernüchterndes Ergebnis des NATO-Gipfels. Unter den gegebenen Umständen sei es richtig, weder Bedingungen noch Zeitpunkt für einen Beitritt festzulegen, kommentiert Marcus Pindur.

Von Marcus Pindur |
Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj(l.) steht beim NATO-Gipfel im litauischen Vilnius an seinem Platz und bekommt Applaus von NATO-Mitgliedern, darunter Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak und US-Präsident Joe Biden (r.)
500 Millionen Euro Integrationshilfe für die Ukraine hat die NATO bei ihrem Gipfel im litauischen Vilnius beschlossen. Damit soll die Ukraine fit gemacht werden für eine spätere militärische Integration in die Allianz. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Doug Mills)
Der Angriffskrieg, den Russland in der Ukraine führt, wird auf dem Schlachtfeld entschieden. Dem hat die NATO Rechnung getragen, indem sie der Ukraine neue militärische Unterstützung zugesagt hat. Das passiert im Wesentlichen bilateral, jeder Bündnispartner ist aufgerufen, beizutragen, was er beitragen kann. Weil die NATO selbst kein Kriegsteilnehmer werden will, wird das geschehen unter einem G7-Rahmenvertrag. Unter diesem Dach bekommt die Ukraine dann militärische Hilfe von den einzelnen Bündnispartnern. Das macht die Koordinierung einfacher und ist deshalb effizienter.
Die Waffenhilfe hat im Vergleich zu der Situation vor einem Jahr deutlich Fahrt aufgenommen. Allein Deutschland hat ein militärisches Unterstützungspaket im Wert von fast 700 Millionen Euro auf den Gipfel mitgebracht.

Selenskyjs Enttäuschung ist verständlich

Weit in die Zukunft weist die Integrationshilfe in Höhe von 500 Millionen Euro in den nächsten Jahren. Damit soll die Ukraine fit gemacht werden für eine spätere militärische Integration. NATO-Standards, NATO-Taktik und NATO-Ausbildung sollen das Land nicht nur ertüchtigen und ihm einen militärischen Vorteil gegenüber dem Aggressor Russland bieten, sondern auf einen späteren Beitritt zum westlichen Bündnis vorbereiten.
Dass der ukrainische Präsident Selenskyj trotzdem enttäuscht ist, ist verständlich. Eine vage Einladung ohne Terminzusage oder einen Zeitplan – das ist aus der Sicht der Ukraine ernüchternd. Das war aber kaum anders zu erwarten. Der wichtigste Grund ist, dass die USA in der jetzigen Lage zu weiteren Zusagen in Bezug auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nicht bereit sind. Vor der Präsidentschaftswahl in den USA passiert da nichts. Damit war das Thema de facto schon lange vor dem NATO-Gipfel in Vilnius vom Tisch.

Beitritt während des Krieges ausgeschlossen

Es ist unter den gegebenen Umständen richtig, keine Bedingungen und keinen Zeitpunkt für einen Beitritt festzulegen. Ein Beitritt noch während des Krieges ist ausgeschlossen. Niemand in der NATO will in einen laufenden Krieg mit Russland eintreten.
Die Sicherheit der NATO beruht auf ihrer Bündnissolidarität und der daraus resultierenden Abschreckungswirkung. Wenn die NATO der Ukraine Sicherheitsgarantien gäbe, die sie militärisch am Boden nicht einlösen könnte oder wollte, dann wäre die Beistandszusage nach Artikel 5 des NATO-Vertrages entwertet, und somit die Bündnissolidarität innerhalb der NATO. Das hätte eine unabsehbare, erschreckende, und mit globalen Konsequenzen versehene Destabilisierung zur Folge.

Entscheidend ist Waffenhilfe

Den Zeitpunkt des Beitrittes auf den Tag nach dem Kriegsende zu legen, gäbe Putin wiederum den Anreiz, die Kriegshandlungen möglichst lange fortzuführen. Deshalb ist es klug, im Unklaren zu lassen, wann die NATO-Mitglieder den Zeitpunkt für eine Aufnahme als richtig bewerten.
Entscheidend ist, dass die Ukraine massiv mit Waffen ausgerüstet wird. Nur ausreichend Waffen und Munition schaffen die Voraussetzungen dafür, dass die Ukraine eines Tages der NATO beitreten kann.
Dr. Marcus Pindur
Marcus Pindur hat Geschichte, Politische Wissenschaften, Nordamerikastudien und Judaistik an der Freien Universität Berlin und der Tulane University in New Orleans studiert. Er war Stipendiat der Fulbright-Stiftung, der FU Berlin sowie des German Marshall Fund. 1997 bis 1998 arbeitete er als Politischer Referent im US-Repräsentantenhaus. Pindur war ARD-Hörfunkkorrespondent in Brüssel, bevor er 2005 zum Deutschlandradio wechselte. Von 2012 bis 2016 war er Korrespondent für Deutschlandradio in Washington, D.C. Seit Anfang 2019 ist er Deutschlandfunk-Korrespondent für Sicherheitspolitik.