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Möglicher Olympia-Boykott
Die Ukraine zögert noch

Das ukrainische Olympische Komitee denkt über einen Boykott der Olympischen Spiele 2024 nach, sollten russische und belarussische Athletinnen und Athleten zugelassen werden. Noch zögert das NOK. Ein möglicher Boykott wäre vielschichtig.

Von Christian von Stülpnagel | 05.02.2023
Olympische Ringe zu den Sommerspielen 2024 vor dem Hotel de Ville, dem Rathaus von Paris.
Die Olympischen Ringe vor dem Pariser Rathaus (picture alliance / Daniel Kalker / Daniel Kalker)
Vladyslav Heraskevych ist kurz nach der Sitzung des ukrainischen Nationalen Olympischen Komitees enttäuscht und wütend: "Ich bin nicht glücklich, weil alles zu lange dauert. Jeden Tag bringen wir auf dem Schlachtfeld so große Opfer, unsere besten Athleten sterben an der Front. Und gleichzeitig kann sich das NOK nicht zu einer starken Entscheidung durchringen."
Der Skeleton-Fahrer hat sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine auch international zu einer lauten Stimme des ukrainischen Sports entwickelt. Von der NOK-Sitzung am Freitag hätte er sich ein klares Bekenntnis zu einem ukrainischen Boykott der Pariser Spiele gewünscht, sollten russische und belarussische Athlet*innen antreten. Denn viele von ihnen seien Teil des Militärs. "Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie ich mit einem Sportler aus Russland oder Belarus in der gleichen Arena stehen soll, der die Armee seines Landes repräsentiert."
Geht es nach Heraskevych bleiben 2024 aber nicht die ukrainischen Athletinnen und Athleten, sondern die aus Russland und Belarus zu Hause. Denn: "Ein Boykott ist die schlechteste Option. Aber es ist die finale Option."

Russland könnnte Erfolge für Propaganda nutzen

Und international zudem hoch umstritten. Vor allem, weil Russland Erfolge seiner Sportlerinnen und Sportler propagandistisch ausschlachten könnte, sagt Jutta Braun zu der Wirkung von Olympiaboykotts. Für die Sporthistorikerin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam bedeutet das aber nicht, dass solche Boykotte nichts bringen: "Boykotte agieren ja immer auf der symbolischen Ebene."
Das sei schon während der Olympischen Spiele in den 1980er Jahren so gewesen, als erst westliche Staaten die Spiele in Moskau, und vier Jahre später sowjetische Länder jene in Los Angeles boykottiert haben. Und es könne jetzt wieder so sein, wenn die internationale Konkurrenz bei Olympia fehle: "Das kann man ja auch im Staatsfernsehen nicht rausretuschieren. Dass man merkt, wir werden hier als Nation, als Staat boykottiert, hat ja immer auch ein Signal an die Bevölkerung. Und gerade in einem so abgeschotteten Land, wie Russland es derzeit wieder ist, ist das natürlich auch kein unwesentlicher Faktor."

Auch andere westliche Länder müssten Spielen fernbleiben

Für einen solchen Effekt müssten neben der Ukraine aber auch viele westliche Länder den Spielen in Paris fernbleiben. Was schon allein deshalb kompliziert ist, weil Frankreich als wichtige Nation Ausrichter der Spiele ist. Und beim Deutschen Olympischen Sportbund heißt es auf Nachfrage: Ob man die Spiele ebenfalls boykottieren würde, werde derzeit noch nicht diskutiert. Die USA haben in den vergangenen Tagen signalisiert, den Kurs vom IOC zur Rückkehr russischer Athleten nicht zu blockieren.
Einer, der bei Olympia in Paris gern dabei wäre, ist Andrii Govorov. Der ukrainische Schwimmer ist aktueller Weltrekordhalter über 50 Meter Schmetterling und wäre ein Favorit auf olympisches Gold. Aber das ist für ihn Nebensache: "Ich würde jede Möglichkeit aufgeben, eine Medaille zu gewinnen, wenn dafür Kinder in meiner Heimat überleben."
Einen Boykott würde er unterstützen – Verständnis, warum ausgerechnet sein Heimatland den Spielen fernbleiben sollte, hat er aber nicht: "Wir sind doch die Opfer in diesem Krieg. Aber derzeit sieht es für mich andersherum aus."
Gegen russische oder belarussische Sportler anzutreten, kann er sich nicht vorstellen. Es gehe ihm dabei nicht darum, eine Nationalität pauschal von den Spielen auszuschließen, fügt er hinzu: "Wir sind nicht gegen bestimmte Pässe. Aber dagegen, dass Russland sportliche Erfolge im Inland als Sieg verkauft."

Rechtsgrundlage für Ausschluss Russlands wackelig

Eine Gefahr, die auch Christof Wieschemann sieht, Anwalt für Sportrecht aus Bochum. Ein weiterer Ausschluss russischer Athletinnen und Athleten vom internationalen Sport kann rechtlich aber umstritten sein. Denn die Rechtsgrundlage dafür sei allerdings wackelig. "Es gibt natürlich olympische Werte, auch in der olympischen Charta. Da stehen unter anderem die Ziele drin. Da ist von Gewaltfreiheit, von Antidiskriminierung und so weiter die Rede. Gegen all das hat der russische Staat fraglos verstoßen. Das Nationale Olympische Komitee und der einzelne Athlet hat dagegen noch nicht verstoßen."
Gleichzeitig gebe es durch das Sportfördersystem aber eine große Abhängigkeit zwischen Athleten und dem Staat. Die Entscheidung, in der Boykottfrage erstmal auf Zeit zu spielen, sei deshalb ein "ziemlich cooler Move vom ukrainischen olympischen Komitee. Ich hatte den Eindruck, im Wissen um ihre schwache Rechtsposition waren sie gut beraten, andere Nationale Olympische Komitees auf ihre Seite ziehen zu wollen, die dann gleichermaßen sagen: Wenn Russland und Belarus mit ihren Athleten antreten, dann boykottieren wir. Das könnte eine Zwangslage herstellen, dass dann das IOC auch sagt, wir müssen in dieser Situation die Sportler ausschließen, die der Störung am nächsten liegen, und das sind nunmal Russen und Belarussen."

Boykottdrohung 1972 erfolgreich

Eine Androhung zum Boykott, die letztendlich erfolgreich sein könnte. Es wäre nicht die erste, wie die Sporthistorikerin Jutta Braun erklärt: "Eine erfolgreiche Boykottdrohung war beispielsweise bei den olympischen Spielen 1972 in München. Da haben afrikanische Staaten gedroht, die kämen nicht, wenn Rhodesien an den Start geht, wegen der rassistischen Politik und das war erfolgreich. Manchmal muss man den Boykott gar nicht durchführen, sondern eine Drohung reicht aus."
Skeletoni Vladyslav Heraskevych hätte sich deshalb schon jetzt das klare Bekenntnis seines NOKs zu einem Boykott gewünscht. Er empfindet das Abwarten als Zeitverschwendung. Aber die möchte er jetzt trotzdem nutzen: "Wir werden weiter Beweise dafür sammeln, dass russische Athletinnen und Athleten in die heimische Propaganda und in die Regierung involviert sind. Und dass sie genauso schuldig sind.“
Und dafür arbeiten, dass am Ende keine russischen oder belarussischen Athletinnen und Athleten an den Start gehen. Sondern welche aus der Ukraine.