Die künftigen Abgeordneten wurden nach Truskawez geladen, ein Kurort in den ukrainischen Karpaten. Dafür buchte die Partei "Diener des Volkes" im Nachtzug von Kiew extra drei ganze Personenwagen. Eine Woche im Spa-Hotel? Ja, aber mit Arbeitsatmosphäre, betonten die Jungpolitiker. Schließlich hätten sie Hausaufgaben bekommen - und seien zu zweit im Zimmer untergebracht worden. Der 23-Jährige Swjatoslaw Jurasch:
"Wir haben eine großartige Mannschaft, das haben wir in Truskawez alle begriffen. Wir haben gelernt, im Team zu arbeiten. Vor allem: seine eigene Position nicht auf Gedeih und Verderb zu verteidigen, auch mal zurückzustecken und den Kompromiss zu suchen."
254 Abgeordnete hat die Präsidenten-Partei "Diener des Volkes" - so viele, dass es im ukrainischen Parlament keinen Raum gibt, wo sich alle zur Fraktionssitzung treffen könnten. Nur wenige von ihnen kennen bisher die Parlamentsarbeit. Unter ihnen sind TV-Entertainer, Filmregisseure und Sportler - und viele Aktivisten von Nicht-Regierungsorganisationen, die sich bisher gegen Korruption eingesetzt haben. In Truskawez wurden sie unter anderem von den Experten einer renommierten Wirtschaftsschule unterrichtet.
Ziel ist das Ende des oligarchischen Systems
Das erklärte Ziel sei es, die weit verbreitete Korruption zu bekämpfen - und deren Wurzel, das oligarchische System, in dem die Reichen die Politik bestimmen und den ganzen Staat beherrschen.
"Die Oligarchen konnten früher mit dem Parlament umspringen, wie sie wollten. Sie wussten, wen sie kaufen mussten, um bestimmte Entscheidungen zu erreichen. Mit den neuen Situationen können sie nicht umgehen, sie erleben einen Schock. Die Zeit, in der sie sich dumm und dämlich verdient haben, ist vorbei."
Kritiker von "Diener des Volkes" halten solche Aussagen bestenfalls für naiv. Sie weisen darauf hin, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj sein Amt einem Oligarchen verdankt - Ihor Kolomojskyj. Der ist Eigentümer des Fernsehsenders, in dem Wolodymyr Selenskyj früher auftrat, als Kabarettist und Schauspieler.
Allerdings gebe es erste Anzeichen dafür, dass Wolodymyr Selenskyj auf Abstand zu Ihor Kolomojskyj gehe, sagt Petro Oleschtschuk, Politologe an der Kiewer Universität: "Kolomojskyj scheint mir nicht besonders zufrieden zu sein mit Selenskyj. Wie anders ließe sich erklären, dass er die Mitarbeiter seiner Metall-Unternehmen nach Kiew bringen lässt, damit sie hier demonstrieren. Gegen die steigenden Preise für Strom. Der wird nicht mehr subventioniert. Das war eine Forderung unserer westlichen Partner."
"Die Partei 'Diener des Volkes' ist eine große Unbekannte"
In der Außenpolitik hat die Wirklichkeit Wolodymyr Selenskyj gezwungen, den Populismus aus dem Wahlkampf hinter sich zu lassen. Da hatte er so getan, als wäre es ein Leichtes, im Donezbecken für Frieden zu sorgen. Doch die von Russland unterstützten und angeleiteten Separatisten haben rasch das Gegenteil bewiesen. Sie brechen konsequent jede Waffenruhe. Auf den Tod von vier ukrainischen Soldaten am Dienstag reagierte Wolodymyr Selenskyj betont besonnen. Er forderte neue Gespräche im sogenannten Normandie-Format, also unter Vermittlung von Frankreich und Deutschland.
Dennoch gibt es auch Beobachter, die den Präsidenten sehr skeptisch sehen, so der einflussreiche Publizist Witalij Portnikow: "Die Partei ‚Diener des Volkes‘ ist eine große Unbekannte. Wir wissen nicht, was Präsident Selenskyj vorhat. Wir kennen noch nicht einmal den Namen des künftigen Ministerpräsidenten, obwohl das eine der wichtigsten Personen im Staat ist. Die Ukrainer haben ein Experiment gewählt. Die einen haben das Recht zu glauben, dass wir vor dem Abgrund und stehen - und die anderen, dass unser Land bald aufblüht."
Ab Ende August oder Anfang September, der genaue Termin steht noch nicht fest, wird sich der Schleier lüften. Dann nimmt das Parlament seine Arbeit auf.