Olga Kurnosowa sitzt in einem Kiewer Cafe. Sie hat ihr Smartphone auf den Tisch gelegt und zeigt ein Video: eine Demonstration in Moskau vor gut einem Jahr. Sie und andere singen die ukrainische Nationalhymne und protestieren gegen das militärische Engagement Russlands in der Ostukraine.
Dann die Losung, mit denen die Putin-Gegner den Kreml wohl am empfindlichsten trafen: "Wir haben genug 200er", skandierten die Menschen. "Ein 200er" ist das russische Codewort für einen gefallenen Soldaten. In diesem Fall: für einen in der Ostukraine gefallenen russischen Soldaten.
"Viele Teilnehmer dieses Friedensmarsches sind festgenommen worden, auch ich. Aber ich hatte Glück: Das Gericht hat mein Verfahren nach Sankt Petersburg verlegt, wo ich gemeldet bin. So kam ich kurz frei und konnte ausreisen. Schon in den Monaten zuvor ist immer wieder die Polizei in meine Wohnung in Moskau eingedrungen, um mich einzuschüchtern. Ich war nahe dran, eine weitere politische Gefangene in Russland zu werden."
Olga Kurnosowa reiste nach Kiew. Den gleichen Weg gingen viele, die Aktivistin schätzt die Zahl der politischen russischen Emigranten in der Ukraine auf einige Hundert.
Einige von ihnen haben nun in Kiew eine Organisation gegründet. "Russisches Zentrum" heißt sie und vereint Aktivisten mit ganz unterschiedlichen politischen Hintergründen. Während sich Olga Kurnosowa dem liberalen Flügel zurechnet, bezeichnet sich der Vorsitzende des "Russischen Zentrums", Denis Wichorjew, als russischer Nationalist:
"Unser Minimalziel ist, dass wir uns hier in der Ukraine gegenseitig helfen. Aber letztendlich wollen wir ein Faktor werden, der auf die russische Politik Einfluss nimmt. Und dann, wenn die Epoche Putins endlich zuende geht, können wir eine wichtige Rolle in der russischen Zivilgesellschaft spielen."
In Kiew kommen auch Russen an, die eigentlich gar keine politischen Aktivisten sind - und trotzdem ins Visier des russischen Geheimdienstes FSB geraten sind. Wie zum Beispiel der Karikaturist Anton Tschadskij. Der 29-Jährige schuf die Figur des "Watnik" - ein hässliches, eckiges Strichmännchen. Es nimmt verbreitete Stereotypen des angeblichen russischen Nationalcharakters aufs Korn - vergleichbar mit dem deutschen Michel oder der Simpson-Familie in den USA.
"Schade, dass viele Russen das nicht verstehen: Ich will sie mit dem Watnik doch nicht beleidigen. Ich will der Gesellschaft nur zeigen, woran es ihr mangelt. Aber die Gesellschaft ist eben auch überhaupt nicht bereit zur Selbstironie, anders als in Europa oder in Amerika. Jede Kritik fassen viele Russen gleich als Beleidigung auf."
Als Anton dann auch noch die russische Annexion der Krim kritisierte, wurden auch die Behörden auf ihn aufmerksam. Die Stadtverwaltung von Noworossijsk, wo er als Finanzbeamter arbeitete, entließ ihn. Der Geheimdienst verhörte Eltern und Freunde. Anton erfuhr, dass er wegen Volksverhetzung angeklagt werden soll - und kehrte aus Kiew nicht mehr zurück, wo er gerade bei Freunden zu Besuch war.
Doch Exil-Russen machen auch die Erfahrung: Vorbehaltlos willkommen sind Kreml-Kritiker in der Ukraine nicht immer und unbedingt. Anton Tschadskij etwa bekommt sogar Drohungen von ukrainischen Nationalisten. Sie hatten ihn zuerst als einen der ihren begrüßt - waren dann jedoch enttäuscht, dass Tschadskij eine Annäherung der Ukraine an die EU unterstützt.
Manche Ukrainer fürchten zudem, die zugezogene russische Intelligenz werde ihr Land erneut russifizieren. Olga Kurnosowa muss immer wieder solche Diskussionen führen.
"Für mich ist es wichtig, die Ukrainer vom Konzept einer Mauer zwischen unseren Ländern abzubringen. Es ist gerade Mode zu sagen: Lebt doch, wie ihr wollt in eurem Russland, wir brauchen euch nicht. Aber Russland ist zu groß und die russisch-ukrainische Grenze ist zu lang. Wenn Russland zum Beispiel zerfällt, was manche ukrainische Patrioten hoffen, dann wird das sehr gefährlich für ganz Europa und besonders für die Ukraine."
Immerhin tragen die Exil-Russen in der Ukraine mit dazu bei, dass die Kommunikation zwischen den beiden Nationen nicht ganz abreißt. Denn Umfragen zeigen, dass die negativen Vorurteile auf beiden Seiten stark zunehmen.