"Die Kiewer Regierung hat ein Interesse daran, dass Land wieder aufzubauen." Dafür brauche die Regierung Frieden. Des Weiteren hätte Kiew ein Interesse daran für diese Gestaltung die Menschen im Osten zu gewinnen sowie die Zerstörung der Infrastruktur, zu stoppen. "Die Ukraine hat Interesse an einem Waffenstillstand, aber der wird auch nicht ohne Bedingungen ablaufen können", sagte Jilge im DLF.
Auch Putin müsse aus unterschiedlichen Gründen mit der Ukraine zu irgendeiner Lösung kommen, betont Jilge. Als Stichwort nannte er unter anderen den reibungslosen Gastransit, den brauche Russland.
Merkel-Besuch in Kiew
Merkel werde in Russland "als einer der wichtigsten Vertreterin der westlichen und europäischen Politik wahrgenommen". Sie habe auch Autorität, allerdings sei aus der Sicht Moskaus Deutschland ein Teil des Westens und damit auch "Objekt dieser ganzen Propaganda".
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Thielko Grieß Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, ist also heute als Vermittlerin in Kiew. Welche Verhandlungskorridore, welche Möglichkeiten gibt es eigentlich in der Ukraine? Zu dieser und noch zu einigen anderen Fragen begrüße ich jetzt am Telefon Wilfried Jilge, Osteuropa-Fachmann, Historiker, Osteuropa-Beobachter, heute Mittag in Moskau. Schönen guten Tag!
Wilfried Jilge: Guten Tag, Herr Grieß!
Grieß: Es heißt, die Kanzlerin wolle eine stärkere Föderalisierung der Ukraine in Kiew besprechen. Halten Sie so etwas für einen sinnvollen Ansatz?
Jilge: Zunächst einmal muss man, glaube ich, zwei Dinge differenzieren. Die Bundeskanzlerin wird sicherlich mit Präsident Poroschenko heute zunächst einmal darüber reden, wie man zu einem Verhandlungsprozess über einen Waffenstillstand kommt. Das ist sicherlich jetzt vorrangig. Und davon zu trennen sind dann Gespräche über eine längerfristige politische Lösung, wo dann in einem Topf sicherlich auch das Thema Dezentralisierung oder Föderalisierung drin ist. Aber das kann natürlich nur gehen mit legitimen Vertretern in der Region beziehungsweise in allen Regionen der Ukraine, denn alle Regionen - auch im Westen - wollen mehr Kompetenzen haben, und das geht sicherlich nicht mit den jetzt sich terroristisch gebarenden Separatisten im Osten. Denken Sie daran: Morgen will man aufseiten der Separatisten in Donezk und Lugansk Kriegsgefangene defilieren lassen in Anlehnung an die sowjetische Siegesparade von 1945, um sozusagen symbolisch, propagandistisch die Unabhängigkeitsfeiern am 24. August in Kiew zu konterkarieren. Das zeigt, wes Geistes Kind die sind. Zur Föderalisierung ist vielleicht noch zu sagen: Da sollte man sehr genau aufpassen, worüber man redet und welche Prioritäten man setzt. Keineswegs wollen die Ukrainer alle im Osten eine völlige Föderalisierung, das geben die Umfragen gar nicht her, und ohne eine Stärkung des Rechtsstaates in der gesamten Ukraine und eine Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung ist eine Föderalisierung oder eine Dezentralisierung, die ja ein großes Projekt ist, überhaupt nicht denkbar.
Grieß: Herr Jilge, vielleicht folgen wir einfach Ihrer Strukturierung. Sie haben ja zunächst einmal gesagt, bevor man über solche inhaltlichen, eher zukunftsgerichteten Fragen spricht, dann geht es jetzt erst einmal darum, wie man einen Verhandlungsprozess in Gang setzt, an dessen Ende vielleicht ein Waffenstillstand stehen könnte. Welche Interessen hat die Kiewer Regierung? Worauf könnte sie eingehen?
Jilge: Also die Kiewer Regierung hat ein Interesse daran, das Land wieder aufzubauen, vor allem im Osten, aber auch in anderen Landesteilen. Und dafür braucht sie Frieden. Sie hat zweitens ein Interesse daran, für diese Gestaltung die Menschen im Osten zu gewinnen, mehr zu gewinnen als bisher oder zurückzugewinnen, die unter den kriegerischen Auseinandersetzungen massiv leiden. Und sie hat drittens ein massives Interesse daran, die Zerstörung der Infrastruktur, die mittlerweile auch zur Taktik der Separatisten gehört, in Klammern, Stichwort verbrannte Erde, zu stoppen. Und wir wissen, dass die ukrainische Armee den einen oder anderen Fortschritt macht, aber dass sie auch nicht durchgreifend diesen Konflikt kurzfristig und effizient lösen kann, und deswegen hat die Ukraine natürlich auch ein Interesse an einem Waffenstillstand. Der wird aber nicht ohne Bedingungen ablaufen können.
Grieß: Sprechen wir über die Gegenseite zunächst einmal, bevor wir dann den Korridor besprechen und ein wenig eingrenzen können, wie weit oder wie eng der tatsächlich ist, der Kompromisskorridor. Aber zunächst mal die Gegenseite: Welche Interessen, welche Verhandlungsspielräume sehen Sie auf russischer, Schrägstrich, separatistischer Seite in der Ostukraine?
"Separatisten sind nationalistische Ideologen"
Jilge: Zunächst einmal zu den prorussischen Separatisten: Da haben wir es mittlerweile mit Leuten zu tun, die sich ja in mehrere separatistische Republikprojekte aufteilen, die kaum mehr überschaubar sind. Wir haben es aber vor allem mit Leuten zu tun - ich habe das eben schon angedeutet -, die hinsichtlich ihrer strategischen Ziele, Vorposten eines imperialen "Russkij Mir", einer russischen Welt zu sein, mittlerweile völlig abgedriftet sind. Es sind eben nicht mehr lokale Föderalisten, wie einmal zum Teil es noch in der Ursprungsphase der Fall war, am Ruder, sondern es sind nationalistische, chauvinistische Ideologen, mit denen man kaum reden können wird. Aber dahinter steht natürlich Russland mit einem erheblichen Einfluss, und Russland hat ein Interesse, weil vieles, was auch Herr Putin zum Beispiel vor einer Woche auf der Krim in seiner Rede angedeutet hat, weil auch die Kreml-Führung merkt, dass ihre Taktik der Destabilisierung nicht so einfach zum Erfolg führt. Auch das mit dem humanitären Konvoi, das Hickhack über zwei Wochen hat weder die ukrainische Regierung zu einer militärisch gefährlichen weiteren Eskalierung provozieren können, noch hat es Russland inszenieren können als weißen Friedensengel. Das heißt, auch Putin muss irgendwie mal mit der Ukraine zu einer Lösung kommen. Aus mehreren Gründen, Herr Grieß: Stichwort reibungsloser Gastransit - auch den braucht Russland, auch wegen der Gelder daraus -, Stichwort Versorgung auf der Krim - Modus Vivendi bei verschiedenen Fragen wirtschaftlicher Versorgung, Wasserversorung -, Stichwort wirtschaftliche Zusammenarbeit in Teilbereichen, wo trotz aller Sanktionsgefechte Russland durchaus auch ein Interesse an der Ukraine hat.
Grieß: Etwa was zum Beispiel Rüstungsfragen angeht, da gibt es ja durchaus eine historisch gewachsene, enge Kooperation beider Länder. Sie haben es schon ein wenig angerissen, aber noch einmal sozusagen die Frage auf den Kern hin: Wo ist dann womöglich der Korridor für Kompromisse?
Jilge: Wie gesagt: Wir müssen uns drauf einstellen, dass schon für den Waffenstillstandsprozess die ersten Gespräche in der nächsten Zeit noch nicht die Lösung bringen werden. Deswegen ist es auch so hoch anzurechnen, dass sich Merkel und Steinmeier langfristig engagieren wollen, denn wir müssen hier mehrere dicke Bretter bohren lassen. Es könnte eben sein, dass man vielleicht zunächst einmal für einen Waffenstillstand nicht das große Lösungspaket hat, sondern dass man eben über diese Fragen, die ich eben angesprochen habe. Nehmen Sie zum Beispiel die Krim, wo die wirtschaftliche Lage wirklich extrem schwierig ist. Wenn man sozusagen im Gegenzug für eine wirklich effiziente Grenzsicherung entlang der ganzen Grenze zum Beispiel zu einem Modus Vivendi in solchen für Russland auch wichtigen Fragen kommt, dann könnte ich mir vorstellen, dass man hier diesen ersten Schritt machen kann. Aber wir können uns keine Illusion darüber machen: Es wird keine schnelle Lösung geben.
Grieß: Gut, dann könnte es ja um diese ersten Schritte dann auch in drei Tagen gehen in Minsk, wo der ukrainische Präsident Poroschenko und der russische Präsident Putin dann aufeinandertreffen und miteinander sprechen. Die Vermittlerrolle übernimmt womöglich irgendwann ... oder Sie haben gesagt, ein langfristiges Engagement der Bundesregierung ist absehbar. Wird Angela Merkel in Russland als etwas wie eine ehrliche Maklerin wahrgenommen?
"Merkel hat hier tatsächlich Autorität"
Jilge: Das ist sehr schwer zu sagen, aber sie wird in jedem Fall als eine der wichtigsten Vertreterinnen der westlichen und europäischen Politik wahrgenommen und hat hier auch tatsächlich Autorität. Das ist unbestritten. Allerdings ist natürlich grundsätzlich auch hier aus der Sicht Moskaus, vor allem in den letzten Monaten, Deutschland ein Teil des Westens und damit auch Objekt dieser ganzen Propaganda. Aber ich denke, man muss das schon auch von der Person Merkels trennen, die hier durchaus angesehen ist, auch wenn man in vielen Fragen natürlich zurzeit nicht zusammenkommt.
Grieß: Sagt Wilfried Jilge, Osteuropa-Beobachter an der Universität Leipzig, wenngleich heute Mittag aus Moskau zugeschaltet. Herr Jilge, ich bedanke mich für das Gespräch!
Jilge: Herzlichen Dank! Wiederschauen!
Grieß: Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.