Eine Vorbereitung auf die Olympischen Spiele gestaltete sich wohl selten schwieriger als die der ukrainischen Athleten:
"Zahlreiche Sportler können nicht in der Ukraine trainieren – zum Beispiel in vielen Wassersportarten, weil die Russen viele Schwimmbäder zerstört haben. Ich weiß nicht, warum die keine Schwimmbäder mögen. Aber jetzt müssen die Athleten im Ausland trainieren, zum Beispiel in Kroatien", erklärte Andrey Chesnokov, stellvertretender Sportminister der Ukraine, im Sportgespräch am Rande der Sport-Konferenz "Play the Game".
"Manche können in der Ukraine bleiben und wir wollen, dass sie in der Ukraine trainieren, weil es natürlich billiger ist", so der Minister, der nachschob: "Es ist natürlich eine Gefahr für die Sicherheit, aber diese Bedenken und Bedrohungen gelten für alle Menschen in der Ukraine. Es gibt Sportstätten im Westen, die – man kann nicht sagen, dass sie sicher sind, denn es gibt keine sicheren Orte in der Ukraine."
Trotz der mehr als 400 toten Sportlerinnen und Sportler, den vielen zerstörten Sportstätten und den andauernden Angriffen will die Sportnation Ukraine vorbereitet in die Olympischen Spiele gehen. Allen Hindernissen zum Trotz.
"Ich würde das als Heldentum und Resilienz unserer Athleten bezeichnen. Sie wollen wirklich das tun, was die ukrainische Gesellschaft inklusive derjenigen, die uns verteidigen, von ihnen erwarten. Sie wollen, dass die ukrainische Flagge nach ihren Siegen gehisst wird, sie wollen, dass die ukrainische Hymne in den internationalen Sportarenen gespielt wird."
Teilnahme noch offen – "Wir mögen das Wort Boykott nicht"
Dabei steht noch nicht einmal fest, ob die ukrainischen Athletinnen und Athleten überhaupt in Paris an den Start gehen werden. "Wir mögen das Wort Boykott nicht", reagierte Chesnokov angesprochen auf eine mögliche Verweigerung der Teilnahme.
"Die ukrainische Sportgemeinschaft hat noch nicht entschieden, ob wir an den Olympischen Spielen teilnehmen. Wir haben da auch keine Deadline", erklärte der stellvertetende Sportminister, der nicht mit Kritik am Internationalen Olympischen Komitee sparte:
"Wir glauben, dass die Entscheidung des IOC-Exekutivkomitees unverantwortlich ist. Weil sie genau wissen, dass sich die 'noch nie dagewesenen Bedingungen', wie es das IOC 2022 selbst gesagt hat, sich nicht geändert haben – sie sind eher schlimmer geworden." Die Entscheidung über die eigene Teilnahme sei zwar noch offen, jedoch stehen bereits klare Bedingungen fest:
"Wir nehmen nicht an Veranstaltungen teil, wo russische und belarussische Sportler unter ihrer eigenen Flagge antreten, wie beim Boxen. Wir schauen da nach anderen Möglichkeiten."
Chesnokov: "Heftige Diskussion" über "mangelnden Respekt"
Eine Teilnahme sei auch eine Frage des Respekts, erklärte Chesnokov. Zwar wolle man die eigene Nation in Paris vertreten, der Fokus dürfe sich dadurch jedoch nicht verschieben:
"Ja, wir tun unser Bestes, damit unsere Athleten für die Teilnahme an den Olympischen Spielen vorbereitet sind. 50 haben sich bis jetzt qualifiziert. Aber zugleich wurden 424 Sportler und Trainer in diesem Krieg getötet. Es gibt eine heftige Diskussion darüber, ob wir denjenigen, die getötet wurden, nicht mangelnden Respekt erweisen, wenn unsere Athleten einfach zu Olympia fahren und vielleicht ein paar Medaillen gewinnen."
Der Sport und der Krieg ließen sich nicht ohne weiteres trennen: "Vielleicht ist das emotional, aber diese Debatte findet innerhalb der ukrainischen Gesellschaft und Sportgemeinschaft statt. Denn viele ukrainische Athleten dienen in der Armee."
Kritik am IOC: "Wollen mehr Klarheit"
Schon seit Kriegsbeginn fordert Präsident Wolodymyr Selenskyi, Russland von den Spielen auszuschließen. "Vertreter eines terroristischen Staats" hätten bei Olympia "nichts zu suchen".
Nach aktuellem Stand lässt das IOC Russen und Belarussen als neutrale Athleten zu. Chesnokov fordert eine genauere Überprüfung der Teilnehmenden:
"Wir wollen auch noch mehr Klarheit vom IOC. Es gibt zwar Bedingungen für die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Aber wir sehen nicht die Transparenz, dass diejenigen, die sich für Russland und Belarus qualifiziert werden, nochmals überprüft werden.
Man wolle verhindern, dass die teilnehmenden Sportler*innen indirekt das russische Militär unterstützen. Dafür fehlten "eindeutige, transpartente Mechanismen", so Chesnokov:
"Und das ist der Grund, wieso wir noch keine Entscheidung wegen der Olympischen Spiele gefällt haben. Es ist immer noch nicht klar, was die Athleten tragen sollten und was nicht. Wann sie während der Olympischen Spiele sprechen sollten und wann nicht. Wie sie disqualifiziert werden können, wie sieht der Mechanismus aus? Wer überprüft das? Wie schnell können sie disqualifiziert werden?"
Vom IOC verlange man überprüfbare Bedingungen, um Transparenz zu garantieren: "Das NOK der Ukraine hat bereits beim IOC beantragt, dass einige ukrainische Vertreter oder jemand, dem die ukrainische Seite vertraut, wenigstens Beweise vorlegen kann, wenn ein Athlet den Krieg gegen die Ukraine unterstützt und dies die Bedingungen für die Teilnahme an den Olympischen Spielen verletzt. Aktuell gibt es keine Klarheit, keine Antworten, also wie sollten wir da vertrauen?"
"Veletzt die Friedensmission von Olympia"
"Es gibt keine Checks and Balances, keine Kontrolle", bilanzierte Chesnokov. "Und wenn solche Typen als sogenannte neutrale Athleten antreten dürfen, dann verletzt das die Olympische Charta und die Friedensmission von Olympia."
Das IOC argumentiert derweil, dass es nicht einfach alle russischen Sportlerinnen und Sportler nur wegen ihres Passes ausschließen kann. Eine UN-Sonderberichterstattung wies darauf hin, dass dies ein Fall der Diskriminierung darstellen würde.
Chesnokov vom DOSB "enttäuscht"
Auch vom Deutschen Olympischen Sportbund zeigte sich Chesnokov enttäuscht. Man begrüße die Zulassung von Sportlern aus Russland und Belarus zu den Olympischen Spielen 2024 wegen der nun "herrschenden Klarheit", hieß es in einer Stellungnahme Anfang Dezember.
"Persönlich bin ich enttäuscht", reagierte der Sportpolitiker. "Aber zumindest gab es Diskussionen. Ich will nicht sagen, dass das eine Schwäche von Demokratie ist, jedes Land hat für sich selbst die Entscheidung getroffen. Aber wenn wir uns die Lage weltweit angucken, haben Sie recht. Die Mehrheit hat sich auf die Seite von Thomas Bach geschlagen, aus unterschiedlichen Gründen."
IOC "sollte alle enttäuschen"
An drastische Veränderung innerhalb des IOC glaubt Chesnokov nun nicht mehr. "Das IOC ist ein geschlossener Club. Man kann dort nicht viel verändern. Das sieht man auch an den Entwicklungen bei der letzten Vollversammlung, dass vorgeschlagen wurde, dass Thomas Bach noch eine Amtszeit machen könnte, was alle Reformen zur Amtszeitbeschränkung ruiniert. Und Bach hat das nicht abgelehnt. Er hat nicht abgelehnt. Das haben wir gesehen.
Die Enttäuschung über die jüngsten Entwicklungen verbarg der stellvertetende Sportminister nicht: "Wir respektieren das IOC, wir respektieren die wichtige Rolle bei der Entwicklung der olympischen Bewegung, weil wir diese Werte teilen.
Für die Verbreitung olympischer Werte würden die Entscheidungen nicht beitragen, bilanzierte Chesnokov: "Wenn wir diese Intransparenz sehen, wenn wir etwas sehen, dass eine grobe Verletzung des Integritäts-Prinzips ist, wenn wir sehen, dass das IOC versucht, weltweit für Integrität einzustehen, sich aber selbst nicht dran hält, dann sind wir traurig und enttäuscht. Und das sollte alle enttäuschen, die die Prinzipien der Olympischen Charta teilen."