Russischer Angriffskrieg
US-Raketen für die Ukraine – was sind die Folgen?

Russland feuert eine neuartige Mittelstreckenrakete auf die Ukraine – als Antwort auf die ersten Angriffe der Ukrainer mit weitreichenden US-Raketen. Für deren Einsatz hatte die US-Regierung zuvor ihre Erlaubnis gegeben. Was bedeutet diese Eskalation?

    Tests der Langstreckenrakte Army Tactical Missile System (ATACMS) im US-Bundesstaat New Mexico
    Der Kreml warnte US-Präsident Joe Biden scharf wegen seiner Freigabe von Langstreckenraketen für die Ukraine und sprach von einer Eskalation. (AFP / JOHN HAMILTON)
    Im russischen Angriffskrieg in der Ukraine stehen die Verteidiger unter Druck. Nach langem Zögern hatte die US-Regierung Mitte November den ukrainischen Streitkräften erlaubt, mit bis zu 300 Kilometer weit reichenden ATACMS-Raketen russische Stellungen auch jenseits der Grenze zu beschießen. Russland antwortete mit dem Angriff einer neuartigen Mittelstreckenrakete auf Dnipro und weiteren Drohungen.
    Diese Eskalation fällt in eine Phase, in der in den USA der Machtwechsel vorbereitet wird. Am 20. Januar 2025 wird Donald Trump das Amt des Präsidenten übernehmen. Viele gehen davon aus, dass er die US-Unterstützung für die Ukraine zurückfahren wird – deshalb habe sich die Biden-Regierung noch so spät zu der Raketen-Erlaubnis durchgerungen.

    Inhalt

    Wie ist die aktuelle militärische Lage in der Ukraine?

    Die Front ist mit Ausnahme der Region Kursk und des südlichen Donezk aus Sicht des Militäranalysten Franz-Stefan Gady vom Institut für Internationale Strategische Studien (IISS) in London stabil.
    Für Aufmerksamkeit sorgten die wechselseitigen Raketenangriffe: Sechs Sprengköpfe aus einer neuartigen russischen Mittelstreckenrakete detonierten in Dnipro - wenige Tage nach den ersten ATACMS-Angriffen ukrainischer Verteidiger auf Stellungen in Russland.
    Der russische Präsident Putin drohte, auch militärische Ziele der Unterstützerländer ins Visier zu nehmen, die es zulassen, dass ihre Waffen gegen Russland eingesetzt würden. Der Konflikt habe „Elemente globalen Charakters“ angenommen.
    Die US-Regierung zeigte sich davon unbeeindruckt. Der russische Angriff diene dazu, die Ukraine und ihre Unterstützer einzuschüchtern und öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Moskau besitze vermutlich nur eine Handvoll dieser experimentellen Raketen. Auf Wunsch der Ukraine wurde der NATO-Ukraine-Rat zu einer Sondersitzung einberufen.
    Mit Blick auf den Kriegsverlauf betont Militäranalyst Gady, dass weder Russland noch die Ukraine die Kämpfe unendlich weiterführen könnten. Auch Russlands Ressourcen erschöpften sich, was sich spätestens ab der zweiten Hälfte 2025 sowohl beim Personal als auch beim Material bemerkbar machen werde. Die Ukraine werde schon früher mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Beide Seiten müssten daher 2025 etwas an ihrer operativen Einsatzführung ändern.
    Die Verluste auf russischer Seite betragen pro Tag etwa 1.000 bis 1.200 Tote, Verwundete und Kriegsgefangene, auf ukrainischer Seite schätzungsweise mehrere hundert pro Tag, sagte Gady. Das sei für ein kleines Land nach drei Jahren Krieg gegen eine der größten Militärmächte der Welt eine „beachtliche Anzahl an Verlusten“.

    Welche Probleme hat die Ukraine momentan?

    Das größte Defizit der ukrainischen Armee sei derzeit „der eklatante Personalmangel“, sagte Militäranalyst Gady. Die Mobilisierungswellen, die seit Mitte Mai liefen, hätten nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Zum anderen müsse genau beobachtet werden, wie die Truppen tatsächlich eingesetzt würden. Derzeit würden etwa Brigaden an der Front "nachbefüllt", die gar nicht existierten. Dies führe dazu, dass die Truppen nicht rotieren könnten.
    Die materielle Situation sei momentan weniger akut, so der Militäranalyst. Die ukrainische Armee verfüge qualitativ und quantitativ über mehr Drohnen auf dem Gefechtsfeld als die russischen Streitkräfte. Auch bei schwerer Artilleriemunition seien die russischen Streitkräfte nicht mehr so überlegen wie noch im Sommer, schätzt Gady die Lage ein.

    Was kann die Ukraine durch den Einsatz weitreichender Waffen erreichen?

    Nach der Erlaubnis der US-Regierung hat die Ukraine mit ATACMS-Raketen und britischen "Storm Shadow"-Marschflugkörpern russische Ziele angegriffen. Im Fokus stehen Abschussrampen, von denen aus Russland Ziele in der Ukraine mit Gleitbomben und Raketen angreift, sowie Flughäfen, logistische Knotenpunkte, Munitionsdepots und Kommandozentralen.
    Moskau und Petersburg liegen jedoch weit außerhalb der Reichweite der US-Raketen. Russland hat die Entscheidung offenbar antizipiert und bereits Geräte wie hochwertige Kampfflugzeuge verlegt. Der Einsatz dieser Waffen wird den Krieg zwar nicht zugunsten der Ukraine entscheiden, doch er könnte die russische Logistik erschweren und die Angriffe abschwächen.
    Militärexperte Gressel vom European Council on Foreign Relations sieht die Entscheidung der Biden-Administration auch als Antwort auf den Einsatz nordkoreanischer Soldaten auf russischer Seite. Die Erlaubnis zur Nutzung der Waffen gelte bisher offenbar nur für die Region Kursk, wo Russland eine ukrainische Offensive zurückdrängen wolle und dabei nordkoreanische Soldaten einsetze.
    Viel hänge aus seiner Sicht davon ab, welche Ziele die Ukrainer angreifen können und wie viel Munition ihnen dabei zur Verfügung steht. Für sich genommen werde die Entscheidung den Kriegsverlauf nicht entscheidend beeinflussen, so Gressels Einschätzung. Wenn jedoch dauerhaft genügend Fernwaffen geliefert würden, hätte dies einen Effekt. In Kombination mit anderen Schritten wie Militärhilfe, Ausbildung und dem Teilen nachrichtendienstlicher Informationen könnte es der Ukraine helfen, den Krieg zu gewinnen oder zumindest zu überstehen.

    Wie ist die Haltung der künftigen US-Regierung zur Ukraine?

    Die Republikanische Partei ist in der Ukraine-Frage gespalten. Jahrelang hatten viele republikanische Kongressmitglieder US-Präsident Joe Biden als schwach kritisiert, weil er der Ukraine den Einsatz der weitreichenden Waffen nicht erlauben wollte, aus Angst vor einer Eskalation, die die NATO in den Krieg ziehen würde.
    Jetzt führte Bidens späte Zustimmung zu entgegengesetzten Reaktionen in Donald Trumps Partei. Politiker, die weiterhin zur NATO stehen und die Ukraine unterstützen, kritisierten erneut, der US-Präsident habe zu langsam gehandelt. Biden hätte den Bitten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj schon viel früher nachkommen sollen, sagte der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses, Mike Turner. Biden müsse jetzt auch die verbleibenden Beschränkungen aufheben. Ohne Details zu nennen, erklärte der republikanische Abgeordnete, diese hinderten die Ukrainer daran, sich selbst zu verteidigen, und verhinderten, dass dieser Konflikt beendet werde.
    Roger Wicker, der ranghöchste Republikaner im Streitkräfteausschuss des Senats, befand, der „verheerende Konflikt“ hätte zu besseren Bedingungen für die USA und die NATO beendet werden können, hätte Biden auf den Rat von Abgeordneten und Senatoren beider Parteien gehört.
    Vertreter des isolationistischen Kurses der Trump-Partei sehen in der Freigabe der ATACMS für weitreichende Ziele „Kriegstreiberei“. Trumps Sohn Donald Junior nannte die Entscheidung „einen Schritt in Richtung Dritter Weltkrieg“. Ähnlich äußerte sich Richard Grenell, US-Botschafter in Deutschland während Trumps erster Amtszeit. Beide sind Verfechter eines radikal isolationistischen Kurses im Rahmen des „Make America Great Again“ und „America First“- Denkens. Dazu gehört, dass die Vereinigten Staaten keine Unterstützung mehr ins Ausland schicken, sondern sich auf Unterstützung im Inland konzentrieren.
    Der künftige Präsident Donald Trump werde die Ukraine nicht von heute auf morgen fallen lassen, ist sich hingegen Militärexperte Gady sicher. Denn das würde seine Verhandlungsposition schwächen. Bevor überhaupt Verhandlungen möglich seien, müsse die Front stabilisiert werden. "Russland ist das größte Hindernis für konstruktive Verhandlungen."

    Was würde eine deutsche Taurus-Lieferung für die Ukraine bewirken?

    Bundeskanzler Olaf Scholz sprach angesichts der russischen Raketenattacke auf Dnipro von einer "furchtbaren Eskalation, genauso wie vorher die Nutzung von nordkoreanischen Soldaten, die jetzt in diesem Krieg eingesetzt werden und sterben für den imperialen Traum von Putin". Gleichzeitig blieb er bei seiner Ablehnung, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Scholz will eine weitere Eskalation des Konflikts vermeiden.
    Diese Gefahr sieht Militärexperte Gustav Gressel nicht, solange die USA als NATO-Partner präsent sind. Gressel bezweifelt jedoch, ob sich Putin durch die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine tatsächlich zu seriösen Friedensverhandlungen bereit erklären würde. Der russische Machthaber werde erst dann zu Verhandlungen bereit sein, wenn er keine militärische Chance mehr sehe, seine Kriegsziele umzusetzen.
    Der Taurus gilt als einer der modernsten Flugkörper der Bundeswehr. Er hat eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern und wird von Flugzeugen wie dem Eurofighter abgefeuert. Aufgrund seiner Reichweite müssen Piloten nicht in den feindlichen Luftraum eindringen. Taurus übersteigt die Reichweite anderer Systeme wie Scalp/Storm Shadow, die nur bis zu 250 Kilometer weit fliegen können. Letztere sind in der Ukraine bereits im Einsatz.
    Die Ukraine könnte damit vor allem Versorgungswege, Bunker und Kommandozentralen weit hinter der Frontlinie sehr präzise angreifen. Nach der langen Debatte über deutsche Taurus-Lieferungen ist allerdings davon auszugehen, dass viele russische militärische Einrichtungen vorsichtshalber weit hinter die russisch-ukrainische Grenze verlagert worden sind. Allerdings ist die Reichweite des Taurus deutlich weiter und die Präzision deutlich besser als die des amerikanischen Raketenartilleriesystems ATACMS mit 300 Kilometern Reichweite. Deswegen wäre der Taurus eine wichtige Ergänzung der ukrainischen Fähigkeiten.
    Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady spricht von einer politischen Debatte, die "disproportional zum militärischen Effekt" geführt werde. Die Effektivität des Waffensystems sei nicht so groß, wie man annehmen könnte. Es seien nicht genügend Systeme verfügbar, und die russischen Streitkräfte hätten sich bereits vor längerer Zeit auf den möglichen Einsatz von Taurus-Systemen eingestellt.

    tha