Archiv

Ukraine
Schwarzer Tag in Kiew

Es wurde scharf geschossen auf dem Maidan und an anderen Stellen in Kiew. Über 100 Tote waren so bis Donnerstagnachmittag nach Schätzungen zu beklagen. Vor Ort organisieren die Demonstranten weiterhin den Widerstand. Eine Bilanz.

Von Sabine Adler |
    "Doroga, doroga", rufen sie, "aus dem Weg". In hoher Geschwindigkeit prescht ein Auto heran, hinterher ein Krankenwagen, Richtung Maidan. "Ich halte die Straße frei, damit sie die Verletzten holen können", sagt dieser Demonstrant. Jeder macht mit, hat eine Aufgabe. "Wenn man Steine werfen will, muss man welche haben", sagt ein anderer, der seine Munition aus dem Trottoir rausklopft.
    Doch an diesem Tag, der der Staatstrauer vorbehalten sein sollte, wird deutlich schärfer geschossen. Um 7 Uhr morgens, nach nicht mal zehn Stunden, war die zwischen dem Präsidenten und der Opposition ausgehandelte Waffenruhe vorbei, flogen erst Molotowcocktails, folgten Straßenkämpfe hin zum Regierungsviertel, wurden die von den Sicherheitskräften platt gewalzten Barrikaden neu errichtet. Über allem dichter schwarzer Qualm.
    "Den Qualm brauchen wir, der versperrt den Scharfschützen die Sicht."
    Sagen zwei Männer, die dicke Stoffballen zum Feuer schleppen und nicht ahnen, wie wenig das nützen wird. Grimmig schlagen zwei halbnackte Trommler den Rhythmus des Todes. Weil sich das Geschehen immer weiter von den Feuern auf dem Maidan entfernte, der Rauch nicht mehr schützte, hatten die Scharfschützen der Sondereinheit Berkut freie Sicht und damit leichtes Spiel. Vom Hotel Ukraina aus und aus Richtung Regierungsviertel, wo das Parlament und das Regierungsgebäude evakuiert worden waren, nahmen Scharfschützen die Aktivisten auf den Barrikaden ins Visier. Dutzende auf dem Maidan verlieren ihr Leben. Auch radikale Demonstranten haben sich bewaffnet, doch es bleibt ein höchst ungleicher Kampf. Einer Gruppe von Aktivisten gelingt es, Berkut-Leute festzunehmen. Das Kommando, das sie abführt, bewahrt sie vor Lynchjustiz. An mehreren Stellen auf dem Maidan werden die Toten gesammelt.
    Priester Joann improvisiert eine Trauerfeier. Elf Leichen liegen auf dem Pflaster. Notdürftig mit Tüchern bedeckt, einer unter einer schmutzigen blutverschmierten blau-gelben Flagge. Männer in Tarnanzügen schluchzen, verschmieren mit den Tränen den Ruß im Gesicht.
    Alexej Buterow kneift die Augen zusammen. Seit Monaten kommt er zu den Demonstrationen in die Hauptstadt, in Nowolensk nahe der polnischen Grenze ist er Abgeordneter im Stadtparlament. Alle elf hat er gekannt.
    "Sie standen mit uns auf den Barrikaden. Alle haben Schussverletzungen am Kopf oder Oberkörper. Der dort ist direkt neben mir gefallen. Zwei Tage haben wir Schulter an Schulter gekämpft. So ist das gewesen. Vor 20 Minuten ist noch einer getötet worden. Es gibt mehr als 20 Tote, am Europaplatz und hier auf dem Maidan. Wir waren zusammen dort, haben zusammen Kaffee oder Tee getrunken. Ich gehe ganz sicher nicht nach Hause, bis hier nicht alles wieder sauber ist und wir ein Denkmal aufgestellt haben."
    Priester Joann hatte in der Nacht auf der Bühne mit Gebeten Beistand leisten wollen, er ist erschüttert:
    "Was soll ich sagen? Furchtbar war es. Sie schossen auf die Leute, auch auf mich. Viele sind tot, ich bin gelaufen, um Hilfe zu holen, sah, wie jemand fiel, nicht mehr aufstand, starb. Ihnen alles Gute", sagt er und rückt seinen Stahlhelm über der Priesterkappe gerade. "Gehen sie dort nicht ohne Helm hin, kann sein, dass sie schießen."
    Nicht weit von den aufgebahrten Leichen entfernt reicht Tatjana Selesna Männern Tee, mancher presst die Lippen fest aufeinander, aber wenn die freundliche Ärztin sie anstrahlt, lächeln sie wenigstens mit den Augen. Sie kennt die Opferbilanz, am Nachmittag rund 100 Tote.
    "Zu Hause vor dem Fernseher zu sitzen, fällt viel schwerer als hier zu sein. Hier ist das Ganze eindeutig leichter zu ertragen. Gerade wenn du - womit auch immer - helfen kannst."
    Moralische Unterstützung für die Demonstranten kam ausgerechnet von einem Janukowitsch-Mann. Kiews Bürgermeister Makejew trat aus Protest gegen das Blutvergießen aus der Präsidentenpartei aus.
    Wenige hundert Meter vom Maidan entfernt steht die evangelische Kirche von Pfarrer Ralf Haska. Direkt neben dem Präsidentenpalast, der mit immer dickeren Betonplatte verbarrikadiert wurde. Wo gestern die EU-Außenminister stundenlang mit Viktor Janukowitsch einen Ausweg diskutierten, der mit dem russischen Präsidenten und Kanzlerin Merkel telefonierte und dem polnischen Premier Tusk gegenüber seine Bereitschaft zu Neuwahlen noch in diesem Jahr erklärte. Bereits am Morgen erfuhr Pfarrer auf dem Maidan von den ersten Toten und läutete fortan die Glocken. Alle 15 Minuten.