Silvia Engels: Und wir gehen nach Kiew. Die Übergangsregierung dort hat es ja mit mehreren Herkulesaufgaben gleichzeitig zu tun. Zum einen besteht die Sorge vor einer Intervention Russlands in der Ostukraine fort; dann wehrt sich die Übergangsregierung gegen rechte Gruppen, die die Entlassung des Innenministers fordern. Und schließlich muss sie im Eilverfahren die Wirtschaft zukunftsfähig machen. Ein Kenner der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Ukraine ist Andreij Waskowycz – er steht der Reformbewegung nahe, ist Chef der Caritas in der Ukraine, und er ist im Vorstand eines Zusammenschlusses von Wohlfahrtsverbänden. Guten Morgen nach Kiew, Herr Waskowycz!
Andreij Waskowycz: Guten Morgen!
Engels: Beginnen wir mit der Wirtschaftskrise. Woran fehlt es denn den Menschen derzeit, schon jetzt vor allem?
Waskowycz: Vor allen Dingen ist das soziale System in der Ukraine nicht effektiv. Und es ist nicht ausreichend finanziert. Die Sozialsysteme der Ukraine helfen den Menschen kaum, den Menschen, die bedürftig sind, die Hilfe vom Staat brauchen. Vor allen Dingen hängt das damit zusammen, dass ein großer bürokratischer Apparat im sozialen Bereich tätig ist, dass die Gelder nicht zu den Menschen kommen, dass viele Möglichkeiten der Korruption im Sozialsystem existieren. Und deswegen ist es ganz notwendig, ist es sehr notwendig, eine Reform herbeizuführen, die das ganze System umgestaltet. Und zwar nach einem anderen Prinzip. Nach dem Prinzip erstens der Subsidiarität, dass von unten nach oben die sozialen Systeme aufgebaut werden. Zum anderen, dass nicht Institutionen der Fürsorge finanziert werden, sondern die sozialen Dienstleistungen, die direkt den Menschen zugutekommen.
Engels: Sie fordern also eine umfassende Reform der sozialen Systeme. Wie passt denn dann dazu, dass die Regierung daneben nun ja auch einfach so schnell handeln muss. Am Donnerstag ging ja durch das Parlament in erster Lesung das Reformpaket, wonach zum Beispiel 24.000 Stellen in der Verwaltung gestrichen werden sollen. Für Reiche sollen die Steuern steigen, Subventionen fallen weg. Wie passt das zu Ihren Forderungen?
Waskowycz: Einigermaßen passt es, denn die Ansätze der Regierung gehen schon in die richtige Richtung. Dass erstens der bürokratische Apparat abgebaut werden muss in der Ukraine, dass die Steuern erhöht werden müssen für die Reichen, die mit sehr, sehr großem Abstand von der allgemeinen Bevölkerung leben. Der Premierminister hat in einem Interview neulich gesagt, dass 300.000 Menschen in der Ukraine 70 Prozent des Reichtums der Ukraine in ihren Händen halten und ihre Einkommen teilweise nicht besteuern. Wichtig ist, dass heute Reformen eingeleitet werden müssen, die den Menschen zugutekommen, dass die gesellschaftliche und vor allen Dingen die sozialpolitische Struktur des Landes umgestaltet wird, damit die Menschen unterstützt werden können, die Unterstützung brauchen. Das System in der Ukraine basiert darauf, dass vieles subventioniert wird, was nicht subventioniert werden bräuchte, da Menschen sich einiges leisten können. Zum Beispiel der Gas-Preis. Er wird für alle Menschen gleich ausgerichtet, und er entspricht noch nicht dem Selbstkostenpreis des Gases, das die Ukraine aus Russland bezieht. Das heißt, man muss den Menschen helfen, die Hilfe brauchen, aber man kann nicht flächendeckend die Menschen subventionieren mit zum Beispiel Gas-Preisen, mit Transportmitteln, freiem Zugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln für ganze Gesellschaftsschichten, die es gar nicht benötigen.
Engels: Das sind aber auch mittelfristige Reformen, die Sie da anstoßen wollen. Und der Gas-Preis ist ja gleichzeitig auch ein Problem, das möglicherweise durch Russland jetzt kurzfristig auch intensiv gesteuert wird. Aber insgesamt ist ja die Frage, ob die Menschen die anstehende Rosskur für die Wirtschaft kurzfristig aushalten.
Waskowycz: Es ist erstaunlich. In den Reaktionen auf diese Reformen, in den Reaktionen auf diese Maßnahmen, die die Regierung jetzt ansetzt, sieht man eigentlich eine recht große Zustimmung der Bevölkerung. Bei einer gestrigen Talkshow, bei einer Talkshow am gestrigen Abend, wo die Zustimmung der Zuschauer mit Monitoring – wo man die Zustimmung der Zuschauer sieht – als Ministerpräsident Jazenjuk von den Maßnahmen sprach, hatte er teilweise bis zu 75 Prozent Zustimmung für die Maßnahmen, die die Regierung vorhat. Das heißt, die Menschen sind bereit, den Gürtel enger zu schnallen, wenn es danach zu Reformen kommt, wenn vor allen Dingen die Korruption im Lande bekämpft wird. Die Information, dass in der Wohnung eines Ministers der alten Regierung, der nach Moskau geflohen ist, nach Russland geflohen ist, im Safe fünf Millionen Dollar gefunden wurden und 50 Kilogramm Gold, zeigt, dass das Land durch und durch korrupt war und dass viele Gelder, die für soziale Maßnahmen ausgegeben werden könnten, um die bedürftigen Menschen zu stützen, in dunklen Kanälen verschwunden sind. Dagegen wehrt sich das Volk und ist bereit, Reformen zu unterstützen, die in die richtige Richtung gehen.
Engels: Herr Waskowycz, Sie stehen der Reformbewegung nahe – jetzt hat aber auch die Übergangsregierung gewaltige Probleme mit dem Einfluss der Rechten und Rechtsradikalen. Wie stark ist die Macht der Rechtsextremisten, der Partei Swoboda in der Regierung? Und wie hängt das Ganze mit den Protesten des Rechten Sektors jetzt vor dem Parlament zusammen, die ja den Innenminister stürzen wollen.
Waskowycz: Die Situation mit den Rechten wird sehr stark, wird oftmals falsch ausgeleuchtet. Erstens, die Partei Swoboda, die heute an der Regierung beteiligt ist, ist heute nicht mehr eine – ist keine rechtsradikale Partei. Sie hat sich in den letzten Jahren, aber vor allem auch in den letzten Monaten während des Maidans in die Mitte hin ausgerichtet –
Engels: Aber einige Vertreter sind nach wie vor sehr rechtsradikal.
Waskowycz: Im Trend ist das eine Partei, die sich zu einer rechtszentristischen Partei entwickelt. Dass es in dieser Partei einige radikalere Menschen gibt oder weniger radikale, das ist üblich. Aber die Swoboda-Partei kann heute nicht mehr, meines Erachtens, als rechtsradikale Partei bezeichnet werden. Ich würde sie als rechtszentristische Partei bezeichnen.
Engels: Rechnen Sie denn damit, dass sie nach den Wahlen auch eine Rolle spielen wird dann, in der Regierung?
Waskowycz: Das kann durchaus sein, weil sie eben bestimmte Positionen vertritt. Aber es kann auch sein, dass diese Partei, die ja eigentlich an Stärke gewonnen hat als Protestpartei gegen das alte Regime, dass sie marginalisiert wird in der ukrainischen Politik.
Engels: Und wie spielt der Rechte Sektor, das ist ja eine andere Gruppe, in diesem Klima mit?
Waskowycz: Der Rechte Sektor hatte eine besondere Bedeutung während der Ereignisse auf dem Maidan. Er galt quasi als Katalysator bestimmter Ereignisse. Und es ist durchaus möglich, dass es, wenn es diesen Rechten Sektor nicht gäbe, heute noch die Menschen auf dem Maidan stehen würden, ohne irgendwelche Resultate erzielen zu können. Diese Radikalisierung war möglicherweise notwendig, um zu bestimmten Ergebnissen zu kommen. Heute steht der Rechte Sektor teilweise in der Kritik, teilweise wird der genutzt in der Propagandamaschinerie, die aus dem Kreml in die ganze Welt ausstrahlt – dafür, um zu zeigen, dass in der Ukraine die Lage destabilisiert ist. Ich glaube, dass der Rechte Sektor heute bestimmte Forderungen einstellt, vor allen Dingen auch radikale Änderungen der Politik und vor allen Dingen im Bereich der Bekämpfung der Korruption eine Rolle spielt. Dass aber dieser Rechte Sektor teilweise auch instrumentalisiert wird von Provokateuren, wie zum Beispiel bei dem Versuch vor zwei Tagen, das Parlament zu stürmen. Von diesen Stimmen hat sich der Rechte Sektor distanziert.
Engels: Noch kurz zum Schluss: Kann es sein, dass darüber die Übergangsregierung stürzt, über diesen Einfluss des Rechten Sektors?
Waskowycz: Das glaube ich nicht. Da sehe ich den Einfluss des Rechten Sektors nicht groß genug. Und ich glaube, dass der rationale Ansatz der Übergangsregierung die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat.
Engels: Andrij Waskowycz war das, er ist Chef der Caritas der Ukraine und steht der Reformbewegung in Kiew nahe. Vielen Dank für Ihre Einordnungen und Einschätzungen heute Morgen!
Waskowycz: Danke!
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