Jürgen Zurheide: Ja, das war Dmitri Bulatow. Er erhebt schwere Foltervorwürfe gegen die ukrainische Regierung oder gegen wen auch immer. Darüber haben wir heute Morgen zu Beginn dieser Sendung schon mal kurz gesprochen. Und jetzt wollen wir reden und wollen fragen, wie ist denn die Lage eigentlich in der Ukraine in diesen Momenten, in diesen Stunden' Und darüber reden wollen wir mit Kyril Savin, dem Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, den ich jetzt am Telefon begrüße. Schönen guten Morgen, Herr Savin!
Kyril Savin: Hallo, schönen guten Morgen aus Kiew!
Zurheide: Sagen Sie, was kommt im Moment von diesen Meldungen, die hier bei uns natürlich die Nachrichten beherrschen, was kommt da bei Ihnen vor Ort an?
Savin: Im Moment ist in gewisser Weise Stille vor dem Sturm, denn auf der Straße passiert jetzt relativ wenig. Einerseits ist es ja sehr kalt in Kiew, es ist ja minus 20 und noch weniger. Und unter diesen Bedingungen natürlich kommen gar nicht so viele auf die Straße für lange Zeit. Und andererseits, alle warten auf die große Sonntagsdemonstration, die traditionell um zwölf Uhr am Sonntag stattfinden soll. Und da wird es klar, wie es weitergeht. Denn im Moment ist – die Verhandlungen sind abgebrochen, sie sind in der Sackgasse, und keiner weiß, wie es weitergehen wird, ob da weiter Gewalt ausgeübt wird von beiden Seiten oder nach Lösungen gesucht wird.
Zurheide: Kommt denn das Schicksal des Regierungskritikers Bulatow, kommt das bei Ihnen in den Nachrichten vor, also die verwirrenden Meldungen a) über seine Verletzungen, die ja objektiv da sind und die man sieht und die entsetzlich sind, und auf der anderen Seite die Frage, wer steckt dahinter. Kommt das bei Ihnen – wird das bei Ihnen diskutiert?
Savin: Ja natürlich, natürlich Das zeigt jeder Fernsehsender, auch im Internet gibt es ja genug Bilder und auch Video, und das sind natürlich ganz erschreckende Sachen. Leider ist er auch nicht der Erste, der auch entführt und gefoltert war. Es gab schon einige Personen, aber er ist natürlich ganz prominent, weil er war einer der Anführer von den Protesten, und natürlich, die Bilder, die man gesehen hat von ihm mit seinem abgeschnittenen Ohr und so weiter und so fort, das hat Leute zutiefst beeindruckt, und ich befürchte, am Sonntag wird es schon wieder eine sehr große Demonstration sein. Aber wie es weitergeht, ist immer noch unklar, denn es gibt hier keine klare politische Schritte, die man machen soll, um die Krise irgendwie abzuschärfen und die Lösung zu finden.
Zurheide: Wir werden gleich noch über die politischen Schritte reden. Ich will noch einen Moment bei Herrn Bulatow bleiben. Ich habe es vorhin schon versucht, auch mit unserer Korrespondentin zu durchleuchten oder zu durchmessen – ist denn klar, was da passiert ist' Ist für die Menschen klar, was passiert ist' Denn es gibt ja die Behauptung der Regierung, na ja, das waren möglicherweise Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen. Oder wird in der Bevölkerung das völlig anders und eindeutig wahrgenommen als eine schlimme Tat der Regierung oder regierungsnahestehender Personen?
Savin: Es wird ganz eindeutig wahrgenommen, dass das ein Akt der Regierung oder irgendwelcher Pro-Regierungsgruppen – es könnte nicht anders sein. Obwohl wir wirklich hören von offiziellen Stellen, von der Polizei, die behauptet, es könnte sogar quasi eine Inszenierung sein oder Selbstinszenierung sein, was ich eigentlich unmöglich finde in dieser Situation. Viele Menschen leiden mit, und es gibt auch eine ganz große Solidaritätswelle mit ihm. Dazu noch – ich weiß ja nicht, ob das in Deutschland bekannt ist –, er wurde eingeliefert gestern im Krankenhaus, hat dann mehrere Operationen schon erlebt. Und abends kam ja die Miliz ins Krankenhaus und versuchte – na ja, es ist nicht ganz klar, was sie wollten, aber ...
Zurheide: Ja, diese Bilder haben wir hier in der Tat gesehen, der Auftritt ist – hinterlässt mehr Fragen, als dass er Antworten gibt. Wir haben das gesehen, ja.
Savin: Ja. Weil er wurde auch gesucht quasi von der Miliz, von der Polizei, mit dem Vorwurf, er ist Organisator von Massenunruhen und sollte auch zur Verantwortung gezogen werden. Und angeblich wollten die gestern ihn – nicht verhaften, aber zumindest offiziell benachrichtigen, dass er sozusagen gesucht wird. Und sobald er einigermaßen gesund ist, wird er dann wahrscheinlich in Untersuchungshaft genommen. Und das finden Leute auch unmöglich. Einerseits, man foltert ihn, er ist in so einem schlechten Zustand, gesundheitlichen Zustand, und gleichzeitig versucht man noch, sozusagen offizielle Repression da einzuführen. Und das ist einfach unmöglich.
Zurheide: Jetzt hat Präsident Janukowitsch die umstrittenen Gesetze zurückgenommen, seine Unterschrift geleistet. Trägt das zur Beruhigung bei oder eher nicht? Wenn ich Ihnen folge, habe ich den Eindruck, in der Tat, wir werden Sonntag einen neuen Showdown erleben.
Der politische Prozess steckt "in der Sackgasse"
Savin: Das tröstet nicht viel. Natürlich finde ich wichtig, dass der Präsident unterschrieben hat sozusagen diese Rücknahme der antidemokratischen Gesetze. Andererseits hat er auch dieses umstrittene Amnestiegesetz unterschrieben, das wahrscheinlich nicht funktionieren wird, weil dieses Gesetz ist so formuliert, dass es da Bedingungen gibt, und die Bedingungen können aus politischen Gründen nicht erfüllt werden. Deswegen wird es auch keine Amnestie geben, und dadurch, wie ich schon gesagt habe, der politische Prozess steckt ja in der Sackgasse, und es muss jetzt eine neue Lösung gefunden werden. Und am Sonntag bin ich sicher, erleben wir eine ganz, ganz große Demonstration.
Zurheide: Die Rolle der Armee sollten wir noch beleuchten. Die Armee hat sich geäußert. Unsere Korrespondentin hat vorhin zu Beginn dieser Sendestunde darauf hingewiesen, dass die Signale nicht ganz eindeutig sind. Wie werten Sie die Signale, die die Armee gegeben hat oder hat geben wollen?
Savin: Ich werte es folgendermaßen: Es gab diese Erklärung, und ich glaube, diese Erklärung war künstlich organisiert von der Regierung oder von propräsidialer Seite, um einfach zu zeigen, dass er im schlimmsten Fall auch die Armee sozusagen auf seiner Seite haben, wenn es dazu kommt, zum Beispiel den Ausnahmezustand einzuführen. Und die Armee könnte ja so eine Rolle erfüllen, die jetzt die Polizei versucht zu erfüllen. Andererseits, es gab ja danach sehr viele Meldungen aus sehr unterschiedlichen Einheiten der Streitkräfte, von verschiedenen Generälen und so weiter, dass sie auf keinen Fall sich einmischen werden; dass sie ein großes Mitgefühl und Mitleid mit den Protestierenden haben. Ich glaube nicht, dass die Armee eine Rolle spielen wird in dieser Auseinandersetzung in der Ukraine.
Zurheide: Wie nimmt man in der Ukraine selbst wahr, dass jetzt Gespräche auf der Sicherheitskonferenz auch in München stattfinden werden' Herr Klitschko ist in München angekommen – hat man da irgendwelche Hoffnungen, dass außerhalb, in irgendwelchen Luxushotels etwas Positives passiert für die Ukraine, für die Menschen dort?
Savin: Man hat ja ganz kleine Hoffnungen natürlich. Man weiß darüber Bescheid, auch Bilder sieht man und Reportagen jetzt im Fernsehen. Ich glaube, die Hoffnung besteht darin, dass da einige Gespräche stattfinden können vor allem mit der russischen Delegation. Ich weiß ja nicht, ob Herr Putin da sein wird, wahrscheinlich nicht, weil er jetzt sich um Olinka kümmert.
Zurheide: Richtig. Er wird nicht da sein.
Savin: Aber da kommt jemand sicherlich aus Russland, wahrscheinlich Herr Lawrow oder so, und da werden wahrscheinlich Gespräche geführt, eher nicht zwischen der Ukraine und Russland, sondern zwischen EU-Vertretern und Vertretern der Russischen Föderation. Und dass es da eventuell irgendwelche Absprachen gibt, die die Situation hier erleichtern. Denn es ist ja kein Geheimnis, dass sozusagen diese Krise in der Ukraine ja auch diese geopolitische Dimension hat, die auch nicht zu vergessen ist.
Zurheide: Darüber werden wir gleich um kurz nach sieben dann reden, mit Herrn Ischinger. Das war Kyril Savin, der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Danke für das Interview um 6:58 Uhr!
Savin: Danke schön!
Zurheide: Auf Wiederhören!
Savin: Auf Wiederhören!
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