Stephanie Rohde: Die Ukraine hat eine ungewöhnliche Wahl: Zwischen einem Diener des Volkes und einem Diener des Volkes, zwischen Petro Poroschenko, der bereits Präsident ist und wiedergewählt werden will, und Woldymyr Selenskij, der immerhin fiktiv den Diener des Volkes spielt in einer gleichnamigen Fernsehserie.
Im ersten Wahlgang vor einigen Wochen hat sich der Schauspieler Selenskij überraschend mit 30 Prozent der Stimmen unter 39 Kandidaten durchgesetzt. Amtsinhaber Poroschenko kam auf knapp 18 Prozent. Morgen entscheiden die Menschen in der Ukraine bei einer Stichwahl, wer von beiden die Ukraine in Zukunft führen wird, und das ist keine leichte Aufgabe, auch weil im Osten des Landes weiter gekämpft wird, fast täglich Soldaten sterben.
Was die beiden potenziellen Diener des Volkes dazu zu sagen haben, das sollten sie beim großen Duell im Olympiastadion in Kiew klarmachen, und das Duell hat auch Rebecca Harms verfolgt. Sie sitzt für die Grünen im Europaparlament und leitet die Wahlbeobachtungsmission der Europäischen Union in der Ukraine. Guten Morgen!
Rebecca Harms: Guten Morgen!
Rohde: Dieses Rededuell zwischen einem Präsidenten und einem Präsidentendarsteller, Sie waren da gestern dabei - war das tatsächlich eine Show ohne Inhalt?
Harms: Also es war auf jeden Fall auch sehr schwer zu verfolgen, auch meine ukrainischen Begleiter hatten Schwierigkeiten, alles zu verstehen, weil viele der Redebeiträge einfach niedergebrüllt worden von den jeweiligen Anhängern des anderen Kandidaten. Das war das eine, was es schwierig gemacht hat, die Unfähigkeit oder der Unwille, überhaupt zuzuhören. Das Zweite, was auch für mich sehr schwierig war, also es war eine sehr kontroverse Aufstellung mit den Blöcken der Anhänger, getrennt sitzend, und es hat auch ein Bild abgegeben von der doch erheblichen Polarisierung in der politischen Debatte, die hier in den letzten Wochen eingetreten ist.
Rohde: Das heißt, so wie Sie das beschreiben, sind die Fronten verhärtet. Vermutlich ist es dann Poroschenko nicht gelungen, noch Leute auf seine Seite zu ziehen?
Harms: Also er hatte da im Stadion gestern, so wie wohl auch hier in Kiew, bisher die Mehrheit. Beim ersten Wahlgang sah das allerdings mit den abgegebenen Stimmen dann ganz anders aus als es sich wahrscheinlich auch gestern für ihn angefühlt hat.
Selenskij dient Ukrainern als Projektionsfläche für die eigenen Wünsche
Rohde: Lassen Sie uns auf Selenskij schauen. Der ist sehr beliebt bei proeuropäischen Liberalen im Westen der Ukraine, aber auch bei prorussischen Wählern im Osten. Wieso kann er so unterschiedliche Gruppen von sich überzeugen?
Harms: Ich würde mal sagen, dass das noch nicht eine große Beliebtheit, was wir da sehen, sondern mein Eindruck nach dem ersten Wahlgang und auch bei Besuchen in der Ukraine, die der Beobachtung des Vorwahlkampfes und des Wahlkampfes dienten, war immer, dass es eher eine Negativstimmung nicht nur gegen Petro Poroschenko, sondern gegen alle den Ukrainern seit Langem bekannten Politikern gibt, und dass Selenskij eine Projektionsfläche ist, auf die hier jeder seine Wünsche, seine Ziele für die ukrainische Politik der nächsten Jahr projizieren kann.
Harms: Was das Politische angeht, ist Selenskij profillos
!Rohde:!! Heißt das, Selenskij ist am Ende profillos?
Harms: Also jedenfalls, was das Politische angeht, ist er profillos. Er macht daraus kein Geheimnis. Im Gegenteil, er hat es im Verlauf der Kampagne zu seinem eigentlichen Vorteil gemacht, dass er gar keine Erfahrung mit der Politik hat, weil das ist aus der Sicht vieler Wähler, die wirklich enttäuscht sind von dem, was sie bisher bekommen haben, das ist sein großer Vorteil.
"Das größte Problem ist der direkte Einfluss der Oligarchen"
Rohde: Aber wie überzeugend ist das, wenn Selenskij verspricht, dass er gegen die Verstrickungen der Oligarchen vorgehen will, gegen die Korruption, wenn er selber das Produkt eines Oligarchen ist, weil er nämlich in einem Fernsehsender von einem Oligarchen Comedy und Wahlkampf miteinander vermischen kann?
Harms: Also bisher ist mein Eindruck, dass er eher als ein Selfmademan gilt, der mit ökonomischen und dann mit schauspielerischen Talenten ein kleines Vermögen gemacht hat. Im Vergleich zu den Vermögen, die andere Politiker hinter sich haben, ist das klein.
Die Vorwürfe, die auch gestern Abend eine Rolle spielten, dass er Instrument eines Oligarchen sei oder dass hinter ihm ein Oligarch stehe, diese Vorwürfe, die beeindrucken in der Ukraine niemanden, weil hinter allen Politikern stehen - oder fast allen - Oligarchen.
Das ist ja das größte Problem, das größte Problem, meiner Meinung nach, heute in der Ukraine, und deswegen sind auch viele Reformen so schwer. Das größte Problem ist der direkte Einfluss der Oligarchen, also der großen Wirtschaftskapitäne hier, der direkte ungebrochene Einfluss auf die Politik.
"Die Politik der Ukraine lädt das ganze Sprachthema völlig falsch auf"
Rohde: Und dann gibt es noch einen weiteren Vorwurf, nämlich den Einfluss von Russland. Also Selenskij spricht überwiegend Russisch im Wahlkampf. Er hat gesagt, er sei bereit, mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über abtrünnige Gebiete in der Ostukraine zu sprechen. Ihm wird vorgeworfen, dass er zu russlandnah ist. Ist da was dran?
Harms: Ich kann das nicht beurteilen, wie nah oder wie weit weg er da ist, aber meine Voraussage wäre, wenn jemand versucht, als Politiker der Ukraine an der führenden Stelle das zu machen, was ihm vorgeworfen wird, dann bleibt dieser Mann oder diese Frau nicht lange in ihrem Amt, weil das wollen die Ukrainer einfach alle nicht.
Die große Mehrheit ist davon überzeugt, dass die Ukraine sich verteidigen muss, weil die Ukraine sonst auf Dauer nicht unabhängig existieren kann, aber die große Mehrheit wünscht sich natürlich auch ein Ende des Krieges.
Die russische Sprache ist also im Alltag in der Ukraine, es ist völlig normal, dass die Leute, viele Leute, beide Sprachen sprechen. Die Bedeutung, die einige Politiker, wie auch Petro Poroschenko, der Sprache jetzt wieder im Wahlkampf gegeben haben, diese Bedeutung hat es überhaupt nicht. Also die Politik der Ukraine lädt das ganze Sprachthema völlig falsch auf.
Rohde: Wenn Poroschenko jetzt abgewählt werden sollte, heißt das dann auch, dass sein Reformkurs, der ja von der EU unterstützt wird, gescheitert ist?
Harms: Die Wahl bedeutet, dass die Leute hier in der Ukraine mehr von diesen Reformen und konsequentere Reformen wollen. Das haben wir in Brüssel, und ich denke, auch in Berlin wurde das heftig diskutiert, wir haben das diskutiert, und es wird sehr darauf ankommen, dass so systematisch, wie wir die Reformen, die im Assoziierungsabkommen verabredet sind, so systematisch, wie wir das bisher gemacht haben, ist das richtig.
Aber es muss mehr Druck auf Implementierung von wichtigen Gesetzen, zum Beispiel für die Korruptionsbekämpfung, gemacht werden, weil das ist eine ganz große Enttäuschung, dass die große Korruption doch noch viel tiefer und viel fester verankert ist als die Menschen das wollten, die den Maidan organisiert haben.
"Die Ukraine wählt und nicht wir"
Rohde: Und wird die EU einen möglichen Gewinner Selenskij unterstützen bei einem Neuanfang? Er hat ja gesagt, er will die Spirale auch der Konfrontation mit Russland beenden. Steht die EU da möglicherweise dann an seiner Seite?
Harms: Also die Europäische Union steht an der Seite jedes demokratisch gewählten Präsidenten. Die Ukrainer wählen und nicht wir, und die Europäische Union muss meiner Meinung nach viel mehr darauf drängen in Moskau, dass dieser Krieg im Osten der Ukraine so nicht weitergeht. Der Schlüssel dazu - und da hat ja Selenskij auch recht -, der Schlüssel dazu liegt in Moskau.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.