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Ukraine
Warnung vor "unkontrollierter Gewaltspirale"

Der außenpolitische Sprecher der SPD, Niels Annen, warnt vor einer Eskalation der Lage auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Wer an der territorialen Integrität der Ukraine rüttele, der laufe Gefahr, die "Büchse der Pandora zu öffnen", so Annen im Deutschlandfunk.

Niels Annen im Gespräch mit Gerd Breker |
    Gerd Breker: Die neue Regierung in der Ukraine steht vor großen Herausforderungen. Nicht nur, dass es nicht leicht sein wird, den Staatsbankrott zu vermeiden, fast genauso groß ist die Herausforderung, das Land zusammenzuhalten, die Absetzbewegung etwa, wie gehört, auf der Krim zu kontrollieren. Der große Nachbar ist offenbar nicht sehr daran interessiert, die Lage in der Ukraine zu stabilisieren, regiert doch jetzt die proeuropäische Opposition von gestern in Kiew.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit Niels Annen, er ist der außenpolitische Sprecher der SPD. Guten Tag, Herr Annen!
    Niels Annen: Schönen guten Tag, Herr Breker!
    Breker: In diesem Konflikt, Herr Annen, scheint Russland nicht gerade zur Friedensstiftung zu neigen. Sie schützen den abgesetzten Präsidenten Janukowitsch, sie versetzen ihre Kampfjets in Alarmbereitschaft und sie lassen die Flughäfen auf der Krim besetzen. Das sind alles keine Signale der Friedensstiftung!
    Niels Annen
    Niels Annen (www.nielsannen.de)
    Annen: Das ist richtig, wobei wir über die wirkliche Lage auf der ukrainischen Halbinsel Krim im Moment auch zum Teil widersprüchliche Informationen bekommen haben. Ich glaube, es ist wichtig, auch in einer solchen krisenhaften Zuspitzung der Situation noch einmal daran zu erinnern, dass sich die russische Regierung beteiligt hat, sehr konstruktiv, an der Vermittlungsmission von Frank-Walter Steinmeier und den anderen europäischen Außenministern, sie haben damals auch das Interesse und ihre Bereitschaft zur Bewahrung der territorialen Integrität bekundet. Und ohne diese Vermittlung wäre zumindest das Blutvergießen auch nicht beendet worden und es geht jetzt darum, die Lage zu stabilisieren. Das ist im Übrigen auch in weiten Teilen der Ostukraine gelungen, aber eben zurzeit auf der Krim nicht. Und beide Seiten müssen jetzt umgehend Provokationen einstellen.
    Alle Beteiligten müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein
    Breker: Verstehe ich Sie richtig, Herr Annen, sie gehen davon aus, dass sich sozusagen die russische Mehrheit auf der Krim verselbstständigt hat und da eigeninitiativ geworden ist?
    Annen: Auf jeden Fall besteht die Gefahr. Ich glaube, dass man auch darauf hinweisen muss, dass es trotz der beeindruckenden Initiative des ukrainischen Parlaments - das muss man ja einmal sagen -, aus einer bürgerkriegsähnlichen Situation heraus innerhalb von wenigen Tagen eine Übergangsregierung auf die Beine zu stellen, einen Übergangspräsidenten zu ernennen und für Sicherheit und Stabilität im fast gesamten Land zu sorgen, es trotzdem auch einige provokative Entscheidungen gegeben hat, wenn man sich die Entscheidung über die Aufhebung des sogenannten Sprachengesetzes angeschaut hat, auch die eine oder andere Schändung von Weltkriegsdenkmälern, die von der russischen Bevölkerung als Provokation aufgefasst worden ist. Also, beide Seiten sind aufgefordert, das jetzt einzustellen. Und ich glaube, generell kann man sagen: Wer an der territorialen Integrität der Ukraine rüttelt, der läuft Gefahr, die Büchse der Pandora zu öffnen. Das muss auch die russische Regierung wissen, das wird dann irgendwann zu einer unkontrollierbaren Gewaltspirale. Und deswegen glaube ich am Ende, dass alle, die dort im Moment beteiligt sind, auch ihrer eigenen Verantwortung sich bewusst sein müssen. Und wenn die Europäische Union und die Russische Föderation mit ihren Kontakten dazu beitragen können, diese Krise schnellstmöglich zu entschärfen, dann ist das der richtige Weg, möglicherweise auch unter Einbeziehung von Organisationen wie der OSZE oder dem Europarat.
    Breker: Was die Ukraine anbelangt, kann man ja getröstet sein, weil eben halt weder Ministerpräsident Medwedew noch Präsident Putin sich geäußert haben, Herr Annen. Wer muss jetzt mit den beiden reden, wer muss ihnen klarmachen, dass die territoriale Integrität der Ukraine erhalten bleiben muss?
    Annen: Wir sind ja im permanenten Kontakt, die Bundesregierung ist im Kontakt mit der russischen Regierung, auch mit der ukrainischen Übergangsregierung. Ich hoffe auch, dass wir über parlamentarische Kontakte des Bundestages zur ukrainischen Rada den einen oder anderen Hinweis, vielleicht auch die ein oder andere Hilfestellung geben können. Es ist aber auch wichtig, dass wir jetzt Institutionen, vielleicht auch Menschen identifizieren, die das Vertrauen beider Seiten genießen. Und wenn man den Sprecher des Krim-Parlamentes in Ihrem Beitrag gehört hat, der hat sich ja sehr vorsichtig geäußert und nicht von einer Abspaltung der Krim geredet. Ich glaube, dass man solche eher offenen und moderaten Politiker jetzt einbeziehen muss, man muss sie unterstützen. Und ich will auch auf eines hinweisen: Wir reden im Moment über den zugespitzten Konflikt auf der Halbinsel Krim und das ist natürlich im Moment das, was im Mittelpunkt steht. Aber die gesamte Ukraine braucht in den nächsten Wochen und Monaten auch massive finanzielle Unterstützung. Denn das, was im Hintergrund abläuft, ist die Gefahr eines drohenden Staatsbankrotts. Und ich hoffe, dass wir in den nächsten Tagen einen Weg finden, mit dem Internationalen Währungsfonds, mit den Regierungen der Europäischen Union, aber eben auch mit der russischen Regierung, ein Paket zu schnüren, das wiederum auch zur politischen Stabilität in der Ukraine beitragen kann. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Und das wird nicht einfach, ist aber lösbar.
    Übergangsregierung sollte auf Provokationen verzichten
    Breker: Herr Annen, Sie haben recht, die Ukraine hat diese beiden Probleme, einmal den Staatsbankrott vermeiden und zum anderen, das Land beisammenzuhalten. Bleiben wir noch bei Letzterem kurz: Russland hat auf der Krim militärische Interessen, legitime militärische Interessen. Die müsste man den Russen doch garantieren?
    Annen: Es gibt ja völkerrechtliche Verträge über die Stationierung der Schwarzmeerflotte auf der Krim. Es wird ja auch immer wieder darauf hingewiesen, dass historisch die Krim nicht immer ein Teil der Ukraine gewesen ist. Sie ist damals von Chruschtschow an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik quasi verschenkt worden, aber sie gehört heute eben zum Territorium der Ukraine. Und daran können und wollen und dürfen wir auch nichts verändern. Aber natürlich ist die überwiegende russischsprachige Bevölkerung auch kulturell eng mit Russland verbunden, es gibt einen völkerrechtsgültigen Vertrag über die Stationierung der Schwarzmeerflotte. Und diese Dinge können natürlich auch eine Rolle spielen, wenn man jetzt gegenseitig Vertrauen wieder aufbaut. Auch was die kulturelle Identität von Minderheiten in der Ukraine angeht, glaube ich, ist die neue Übergangsregierung in Kiew gut beraten, auf Provokationen zu verzichten.
    Breker: Sie haben die Finanzprobleme angesprochen, Herr Annen. Sehr, sehr viel Geld braucht die Ukraine. Wäre es da nicht auch sinnhaft, der Westen würde mit Russland gemeinsam zusammenarbeiten, um dieses Geld aufzubringen?
    Annen: Wir werden gar nicht darum herumkommen, der Ukraine jetzt auch kurzfristig finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Und der neue Finanzminister, der von der Rada, dem ukrainischen Parlament, ernannt worden ist, hat ja quasi einen Hilferuf auch an die internationale Gemeinschaft gerichtet. Die Devisenreserven des Landes sind in den letzten Tagen in einer dramatischen Art und Weise zusammengeschrumpft, sodass es möglicherweise wirklich um eine Entscheidung nicht von Wochen und Monaten, sondern auch um Tage geht. Und ich hoffe, dass wir eine gemeinsame Lösung finden werden. Denn das Problem der Ukraine in den letzten Jahren war doch immer, dass sie häufig den Eindruck hatten: Sie mussten sich entscheiden auf der einen Seite zwischen Russland und auf der anderen Seite der Europäischen Union. Und diese Situation hat auch dazu beigetragen, die inneren Konflikte in der Ukraine zuzuspitzen. Wir müssen deutlich machen, dass dieses Denken in Nullsummenlogik der Vergangenheit angehört, die Ukraine hat eine europäische Zukunft, sie ist und bleibt aber auch eng verbunden mit der Russischen Föderation. Und deswegen müssen wir zusammenarbeiten.
    Breker: Österreich und die Schweiz frieren jetzt Konten ein von Menschen aus dem Janukowitsch-System. Warum tut das Deutschland nicht?
    Annen: Wir tun das im Moment nicht. Aber ich sage auch dazu: Das, was dort passiert ist, in unserer europäischen Nachbarschaft, zweieinhalb Flugstunden von Deutschland entfernt, dass Scharfschützen auf Demonstranten geschossen haben, das ist etwas, was aus meiner Sicht auch nicht ohne politische und strafrechtliche Konsequenzen bleiben kann. Zu einem jetzt notwendigen Prozess der politischen, der nationalen Versöhnung in der Ukraine wird auch gehören, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ich hoffe, dass es in einer Art und Weise stattfinden wird, die zur Versöhnung beitragen kann. Dort gibt es ja Beispiele auch international. Aber dass das nicht ohne Konsequenzen bleiben kann und dass die Verantwortlichen dort auch ihrer gerechten Strafe zugeführt werden müssen, das halte ich für völlig unausweichlich.
    Nationale Versöhnung: Nicht nur in eine Richtung blicken
    Breker: Sie erwarten einen internationalen Haftbefehl für Viktor Janukowitsch?
    Annen: Das wird sich herausstellen müssen, ob das der richtige Weg ist. Ich glaube, dass es jetzt vor allem natürlich auch die Sache der Rada ist, des ukrainischen Parlamentes, einer dann zu bestimmenden Regierung, diesen Prozess einzuleiten. Ich weiß nicht, ob dort Ratschläge aus Deutschland richtig und notwendig sind, aber ich wiederhole mich noch mal: Ich glaube, dass die Verantwortlichen natürlich auch ihrer Strafe zugeführt werden müssen. Und dazu gehört aber natürlich auch, dass Provokateure auf beiden Seiten sich diesem Prozess stellen müssen. Es sind vor allem Demonstranten umgebracht worden, verletzt worden in diesen Tagen der Auseinandersetzung auf dem Maidan, es sind aber auch Polizisten umgebracht worden. Und zu einem Prozess der nationalen Versöhnung gehört es natürlich, dass man nicht nur in die eine Richtung blickt.
    Breker: Die Einschätzungen des außenpolitischen Sprechers der SPD Niels Annen. Herr Annen, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
    Annen: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.