Russland und die Ukraine produzieren zusammen mehr als ein Viertel des Weizens, der weltweit gehandelt wird, 29 Prozent der Gerste, 15 Prozent der Maisernte weltweit und drei Viertel des Sonnenblumenöls weltweit. Unter normalen Umständen können die Lebensmittelexporte der Ukraine 400 Millionen Menschen satt machen. Doch derzeit kann die Ukraine so gut wie kein Getreide mehr exportieren, auch keine Ölsaaten. Russland führt aktuell ebenfalls kein Getreide aus. Das gefährdet die Ernährungssicherheit in Ländern, die von Getreideimporten abhängig sind.
- Was genau erschwert Getreideexporte aus der Ukraine (und aus Rusland)?
- Könnten besonders importabhängige Länder Getreide auch aus anderen Quellen bekommen?
- Welche Rolle spielen weitere Faktoren wie das Klima bei der Verschärfung der weltweiten Ernährungslage?
- Welche Menschen treffen die hohen Getreidepreise besonders?
- Ist Europa unabhängig von Getreideimporten?
- Wie könnte man die weltweite Nahrungsmittelversorgung akut krisenfester machen?
Was genau erschwert Getreideexporte aus der Ukraine (und aus Russland)?
Russland blockiert den wichtigen Hafen von Odessa, und die Ukraine selbst hat viele Zugänge zu Häfen mit Seeminen vermint, damit die Russen sie nicht einnehmen können. Weil viele Kornspeicher in der Ukraine voll sind, aber der Weizen nicht ausgeführt werden kann, könnte ein Teil der nächsten Ernte verrotten; denn es gibt kaum Möglichkeiten, die neue Ernte ab Juni irgendwo zu lagern, wenn sie denn eingebracht werden kann.
Um wieder auszusäen, fehlen vielen Bauern in der Ukraine nicht nur die Arbeitskräfte, es mangelt auch an Treibstoff.
Russland hat seinerseits einen Getreide-Ausfuhrstopp bis Ende Juni verhängt. In einem Telefonat mit dem italienischen Regierungschef Mario Draghi Ende Mai stelllte Kremlchef Wladimir Putin zwar ein Ende dieses Stopps in Aussicht - wenn der Westen im Gegenzug Sanktionen zurücknehme. Die USA lehnten einen solchen Deal aber zunächst ab.
Auch für das Land der Angreifer werden die Transporte für Schiffseigner teurer und risikoreicher. Und vermutlich werden russischen Landwirten derzeit Getreidesamen und Pestizide fehlen, die sie normalerweise aus Europa importieren.
Das wirkt sich direkt auf die Länder aus, die am meisten aus Russland und der Ukraine importieren: Libanon und Tunesien beziehen dorther die Hälfte ihres Getreides, Libyen und Ägypten sogar zwei Drittel.
Ein Treffen zwischen dem russischen Außenminister Sergei Lawrow und seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu am 8. Juni blieb weitgehend ergebnislos. Die Positionen: Russland fordert die Entschärfung von Seeminen in den Gewässern vor der Schwarzmeer-Küste, damit der Schiffsverkehr sicher sei. Die Ukraine befürchtet im Falle der Einrichtung von Durchfahrtskorridoren neue Angriffe der russischen Kriegsmarine.
Könnten importabhängige Länder Getreide auch aus anderen Quellen beziehen?
Theoretisch ja. Praktisch kaum. Das liegt daran, dass die Preise so stark gestiegen sind, dass viele Länder sich Weizen vom Weltmarkt kaum noch leisten können.
Zudem haben nun mehr als 20 Staaten erlassen, dass weniger Getreide ausgeführt werden darf. Darunter sind Großexporteure wie China und Indien, aber auch Länder wie Kasachstan oder Kuweit. Indonesien, aus dem 60 Prozent des Palmöls stammen, hat ebenfalls einen Teil davon mit einem Exportverbot belegt.
Außerdem wird angenommen, dass die Ernten weltweit dieses Jahr weniger Erträge bringen werden. Das liegt zum einen daran, dass Energie und Dünger teurer geworden sind. Mittlerweile haben Staaten mehr als ein Fünftel des Düngers, den es weltweit gibt, gehortet und den Export eingeschränkt. Bauern werden deshalb weniger stark düngen; das drückt die Erträge.
Wichtiger aber noch ist, dass es zuletzt in vielen Regionen weniger geregnet hat. Deshalb werden viele Ernten schlechter ausfallen.
Welche Rolle spielt das Klima bei der Verschärfung der weltweiten Ernährungslage?
Das Welternährungsprogramm der UN befürchtet schon länger, dass 2022 für die Ernährung der Weltbevölkerung ein schlimmes Jahr werden könnte. Das liegt zum einen an Missernten. In China, dem Land, das weltweit am meisten Weizen anbaut, könnte die Ernte so schlecht ausfallen wie nie zuvor, weil es vergangenes Jahr so heftig geregnet hat, dass die Aussaat mehrfach verschoben werden musste. China bunkert inzwischen selbst Getreide, kauft es seit Monaten bereits auf dem Weltmarkt auf.
Außerdem hat Indien, der zweitgrößte Getreideproduzent weltweit, Mitte Mai angekündigt, dass es keinen Weizen mehr exportieren will, weil es wegen einer Hitzewelle große Ernteausfälle befürchtet.
Auch in anderen Weltregionen regnet es weniger: Am schlimmsten ist es am Horn von Afrika, wo im Moment die größte Dürre seit 40 Jahren herrscht. Aber auch im amerikanischen „Weizengürtel“ oder in der Getreideanbauregion Beauce in Frankreich wird die Ernte vermutlich unter der Trockenheit leiden.
Welche Menschen sind besonders von den hohen Getreidepreisen betroffen?
Steigende Lebensmittelpreise treffen die Ärmsten am meisten. Auch in Deutschland werden das Geringverdiener deutlich im Geldbeutel spüren.
Am härtesten wird es für Menschen südlich der Sahara werden: Dort müssen Menschen schon unter normalen Umständen 40 Prozent ihres Budgets für Lebensmittel ausgeben, in Schwellenländern ein Viertel ihres Budgets. Ihre Budgets können nicht mithalten mit den schnell steigenden Preisen. Dort und in Ländern wie Libyen oder Ägypten können die Regierungen die Preissteigerung oft nicht durch Staatshilfen ausgleichen.
Viele dort haben noch den sogenannten Arabischen Frühling 2011 in Erinnerung, als Menschen auf die Straße gingen. Diese Proteste gingen teilweise aus den so genannten „Brotunruhen“ seit 2008 hervor, bei denen Bürger gegen hohe Lebensmittelpreise protestiert haben.
Die hohen Kosten für Grundnahrungsmittel führen schon dazu, dass die Zahl der Menschen, die nicht sicher sind, ob sie genug zu essen bekommen, seit Anfang des Jahres um 440 Millionen gestiegen ist, auf derzeit 1,6 Milliarden. 250 Millionen Menschen weltweit sind akut vom Hunger bedroht.
Ist Europa unabhängig von Getreideimporten?
Ja, weitgehend. Europa baut selbst genug davon an. Trotzdem steigen bei uns die Lebensmittelpreise, denn die Rohstoffpreise orientieren sich am Weltmarkt, und die Bauern zahlen zudem mehr für Diesel und Dünger – das schlagen sie auf den Preis drauf.
Der Bauernverband fordert, dass er wieder mehr Fläche bewirtschaften darf und nicht, wie es die EU-Kommission kürzlich durchgesetzt hat, am Rande der Felder unbeackerte Blühstreifen ausgespart werden müssen, damit Insekten weniger stark leiden.
Wie könnte man die weltweite Nahrungsmittelversorgung akut krisenfester machen?
Importabhängige Länder sollten nach Möglichkeit künftig mehr regional selbst produzieren und ihre Bezugsquellen diversifizieren, dann wären sie nicht mehr so abhängig von einzelnen Großimporteuren, sagt der Politologe Lukas Fesenfeld im Dlf. Das sind aber eher Langfristperspektiven.
Es gibt auch kurz- und mittelfristige Lösungsansätze: Zum einen könnten die europäischen Länder, insbesondere Deutschland, weniger Getreide für Biokraftstoff oder Biodiesel verwenden. Zehn Prozent des Getreides geht in den Tank.
Zum zweiten verfüttern die Europäer sehr viel Getreide an Tiere. In Deutschland etwa landen laut Bundeslandwirtschaftsministerium 58 Prozent des verfügbaren Getreides in Futtertrögen.
Die Europäer könnten logistisch möglicherweise helfen, möglichst viel Getreide aus der Ukraine über Züge und Lkw zu Häfen in Rumänien und den Baltischen Staaten zu bringen. Damit könnte trotzdem vermutlich nur ein Bruchteil der Ernte das Land verlassen.
Die Länder des Westens könnten Entwicklungs- und Schwellenländer finanziell unterstützen, die sich wegen der hohen Getreidepreise keine Getreideimporte mehr leisten können.
Die übrigen Lösungen setzen auf Verhandlungen mit Russland: Russland müsste ukrainische Schiffe rauslassen; daran hat es aber kein Interesse, denn es will die Ukraine wirtschaftlich in die Knie zwingen. Die Ukraine ihrerseits müsste die Minen aus dem Meer vor Odessa entfernen; ohne sie wird es aber wahrscheinlicher, dass die Russen diesen wichtigen Hafen einnehmen. Vermutlich müsste auch die Türkei zustimmen, damit eventuell bewaffnete Geleitschiffe die Fracht sicher durch den Bosporus bringen können.
Wenn die 25 Millionen Tonnen Weizen und Mais, die wegen verminter oder anders blockierter Verkehrswege in der Ukraine festsitzen, das Land verlassen könnten, könnte man damit die Bevölkerung der ärmsten Länder der Welt ein Jahr lang ernähren, schreibt der britische "Economist".