Dirk Müller: Die Zeichen stehen auf Beruhigung: Nur noch vereinzelt berichten Korrespondenten von Schüssen oder auch Scharmützeln im Osten der Ukraine. Der Waffenstillstand von Minsk hält also offenbar, im Großen und im Ganzen jedenfalls. Auch die betroffene Bevölkerung in der Region kann inzwischen wieder besser versorgt werden. Öffentliches Leben kehrt so allmählich zurück auf die Straße. Aktuell beschäftigt beide Seiten noch ein vollkommen anderer Aspekt: Russland möchte den 70. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg besonders feiern. Die Ukraine dagegen schert aus aus der bisherigen Jubiläumspraxis, als Abgrenzung von Moskau. Warum? Das erklärt der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, im Gespräch mit unserer Kollegin Sabine Adler.
Sabine Adler: Am Montag beim EU-Ukraine-Gipfel wird die Frage gestellt werden, wie weit der Minsker Friedensplan umgesetzt ist. Die Waffen schweigen weitgehend, damit könnte eigentlich die politische Regulierung beginnen, Stichwort Wahlen in den sogenannten Volksrepubliken. Die Erarbeitung eines Autonomiestatus. Herr Botschafter, wie steht es darum?
Andrij Melnyk: Die Waffenruhe, auch, wenn viel weniger geschossen wird und nur an einzelnen Standorten entlang der Kontaktlinie, trotzdem ist sie nicht hundertprozentig gesichert. Wir haben weiterhin viele Tote zu beklagen. Allein seit Mitte Februar sind mehr als 80 Soldaten getötet worden, und wir haben über 500 Verwundete. Außerdem muss man sagen, dass das Parlament auch das entsprechende Gesetz verabschiedet hat; die Kompetenzen, die für diese zwei Regionen gewährt werden, die sind alle in diesem Gesetz vorgesehen.
Voraussetzungen für politischen Prozess schaffen
Adler: Werden diese Wahlen in diesen sogenannten Volksrepubliken zusammen mit den anderen Regionalwahlen stattfinden in der Ukraine, oder wird man das extra machen? Und wie kann ein solcher Autonomiestatus aussehen?
Melnyk: Eigentlich fehlte sowohl in Minsk II als auch in diesem Gesetz, das vom Parlament verabschiedet wurde, das Wort Autonomie. Es geht eben um einen also besonderen Status in diesen zwei Regionen. Entscheidend wird es sein natürlich, dass notwendige Voraussetzungen für einen Wahlkampf geschaffen werden. Erstens, dass nicht mehr geschossen wird, dass die Parteien zugelassen werden, und natürlich, dass die internationalen Beobachter da anwesend sein werden. Die Ukraine hat das größte Interesse, hier Fortschritte zu zeigen, denn von einer Wahl wird auch der Zugang zur Grenze und die Grenzkontrolle mit Russland abhängen. Und wir sind natürlich daran interessiert, dass man diesen Zugang so schnell wie möglich bekommt. Man hat leider auch in den letzten Wochen registriert, dass die Waffenlieferungen fortdauern. Deswegen: politischer Prozess so schnell wie möglich, aber nur, wenn die Voraussetzungen geschaffen werden.
Adler: Herr Botschafter Melnyk, wir sind wenige Tage vor dem 9. Mai, das ist der Tag, an dem im postsowjetischen Raum immer des Sieges im Zweiten Weltkrieg gedacht wird. Dieser Sieg wird gefeiert meist mit einer großen Parade, unter anderem dieses Jahr ja auch wieder in Moskau. Die Ukraine hat sich entschieden, das nicht zu tun, diesen Tag nicht zu feiern. In Moskau wird das als eine weitere Konfrontation gewertet. Warum will Ihr Land diesen Tag nicht mehr würdigen?
Melnyk: Das stimmt nicht in dem Sinne, wie Sie das schildern. Die Ukraine hat sich entschieden, den 70. Feiertag des Endes des Zweiten Weltkrieges im europäischen Sinne zu begehen, aber gleichzeitig haben wir nicht darauf verzichtet, auch den 9. Mai zu feiern. Das heißt, im Moment hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, wobei sowohl der 8. Mai, so wie das überall in Europa der Fall ist, aber auch der 9. Mai gefeiert werden. Am 8. ist es ein Versöhnungs- und Gedenktag, und der 9. Mai entspricht eben der alten Tradition, und wir möchten auch auf diese Tradition nicht verzichten. Wichtig ist, dass im Mittelpunkt dieser Feierlichkeiten also nicht der Sieg, nicht das Militärische im Vordergrund steht, sondern eben das Gedenken an die gefallenen Menschen. Wir haben mindestens acht Millionen Menschen verloren. Wir hatten 2,4 Millionen Zwangsarbeiter, fast eine halbe Million Menschen waren im KZ, und die meisten sind auch gestorben. Für uns ist der Tag des Endes des Zweiten Weltkrieges ein heiliger Tag. Und alles andere ist nur die Propaganda, die Russland jetzt auch verbreiten will. Deswegen, alleine in der Roten Armee haben etwa sechs Millionen Ukrainer gekämpft, und drei Millionen sind gefallen, allein auf deutschem Boden etwa 200.000 Menschen.
Politisch brisante Themen in Zeiten der Krise
Adler: Das Parlament hat noch ein weiteres Gesetz verabschiedet, nämlich es hat ein Gesetz über die Anerkennung der ukrainischen Aufstandsarmee ganz besonders geregelt. Es hat einen besonderen Status für dieses Gedenken festgelegt. Niemand darf die Leistungen herabsetzen dieser UPA, der Aufstandsarmee. Nun ist aber doch ausgerechnet diese Armee sehr umstritten, sie gilt als eine Kämpferin gegen die Rote Armee, Sie haben es gerade gesagt, in der ja auch selber ukrainische Soldaten vertreten waren. Sie hat zum Teil an der Seite der Wehrmacht und dann später gegen die Nazis gekämpft. Der UPA werden auch Morde an Juden beziehungsweise Polen zur Last gelegt. Warum muss in einer so aufgeheizten Situation wie jetzt zurzeit ausgerechnet dieses sehr, sehr schwierige Thema, das in der Ukraine noch nicht aufgearbeitet ist, warum muss in dieser Zeit dieses Thema angefasst werden.
Melnyk: Das Parlament hat das entsprechende Gesetz vor einigen Tagen verabschiedet. Allerdings ist das noch nicht vom Präsidenten unterschrieben, und das Gesetz ist noch nicht in Kraft getreten. Sie haben recht in dem Sinne, dass diese Initiative unterschiedliche Reaktionen ausgelöst hat, und nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Ausland, in Deutschland haben wir auch schon in den letzten Tagen viele Gespräche darüber geführt. Faktum ist, dass die Ukrainische Aufständische Armee auch einen Beitrag zum Ende des Zweiten Weltkriegs geleistet hat. Es gab natürlich Fehler, und die Ukraine ist bereit, sich auch mit den schwierigen Seiten ihrer eigenen Geschichte zu konfrontieren und auseinanderzusetzen, ehrlich, auch wenn es schwierige Kapitel gegeben hat. Und wir glauben, dass die Ehrung von diesen vielen Zehntausenden von Menschen, die für ihre Heimat damals im Krieg unter schwierigsten Umständen gekämpft haben, das Gedenken auch an diese Menschen muss bewahrt werden.
Adler: Jetzt sind die Polen ja ausgerechnet als Anwälte der Ukraine in Europa sehr davon betroffen. In Polen wird das äußerst kritisch gesehen, denn es waren viele Polen, die von Ukrainern, von der UPA ermordet worden sind. Was sagen Sie den Polen in diesem Moment?
Melnyk: Polen war und ist unser wichtigstes Nachbarland, ein Staat, der uns politisch und wirtschaftlich geholfen hat. Und wir schätzen die Beziehungen zu Polen sehr hoch. Wir sind im ständigen Dialog, das ist das Wichtigste. Auch die Geschichtsforscher, die arbeiten zusammen, und man versucht, eben nicht das Thema zu meiden, sondern auch in einem Dialog diese schwierigen Seiten, die wir hatten im Jahr 43, wo es schwierige Ereignisse in Wolhynien gegeben hat, wo viele Polen gefallen sind, aber auch viele Ukrainer. Man muss hier sagen, dass in diesem sehr, sehr komplizierten Krieg sowohl die Ukraine als auch die Polen Opfer von beiden Großmächten geworden sind. Es ist so, dass die dann auch gegeneinandergehetzt wurden.
Wert der Symbolik
Adler: Herr Botschafter Melnyk, warum so viel Symbolik im Moment? Warum ist das so wichtig? Sie haben einen Krieg in der Ostukraine, Sie haben Reformen zu leisten, um die Finanzauflagen zu erfüllen, und man hat den Eindruck, das Parlament befasst sich mit Symbolik.
Melnyk: Nicht nur Symbolik. Symbolik hatte immer einen großen Wert. Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass im Moment das A und O für die Regierung, für das Parlament ist, die Reform voranzutreiben, aber gleichzeitig darf man auch die Geschichte nicht vergessen. Wir müssen auch sehen, dass zum Beispiel in Russland ein Trend zu verzeichnen ist, wobei der Stalinismus wieder geehrt wird. Und für uns war Stalinismus genauso zerstörerisch für die Ukraine, für die ukrainische Nation, wie der Nazismus. Und deswegen sind wir sehr, sehr kritisch gegenüber dem, was wir in Russland sehen, und man kann auch sagen, dass diese Schritte, die jetzt auch im Parlament gemacht wurden, dass man auch stalinistische Symbolik entweder verbieten oder wenigstens begrenzen muss. Das ist eben die Antwort auf die schwierigen Seiten der gemeinsamen Geschichte.
Müller: Meine Kollegin Sabine Adler im Gespräch mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Das vollständige Gespräch können Sie als Audio-on-Demand hören.