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Ukraine und UdSSR
Fußball als Symbol für lokale Identität

Trotz der Kriegssituation will sich die Ukraine noch für die Fußball-WM 2022 in Katar qualifizieren. Die potentielle Teilnahme soll auch ein Zeichen gegen Russland setzen, obwohl die beiden Länder eine gemeinsame erfolgreiche Fußballgeschichte haben.

Von Ronny Blaschke |
Auf einem Banner fordern Schachtjor-Fans eine "Vereinigte Ukraine".
Auf einem Banner fordern Schachtjor-Fans eine "Vereinigte Ukraine". (AFP / Alexander Khudoteply)
In der Sowjetunion unterdrückte der Kreml viele Traditionen in den Teilrepubliken. Auch in Kiew war Russisch die Pflichtsprache, das Ukrainische galt als „subversiv“. Rund um die ukrainischen Stadien von Dynamo Kiew, Schachtar Donezk oder Dnipro Dnipropetrowsk achteten die Sicherheitskräfte, damals Milizionäre genannt, genau auf das Verhalten der Fans. Fahnen, Spruchbänder und Vereinsschals waren bis in die Achtziger hinein verboten.
„Wer ins Stadion kam, musste durch ein Spalier. Die Polizisten hatten die Aufgabe, alles, was irgendwie konfrontativ sein könnte, zu beschlagnahmen.“
Thomas Urban, langjähriger Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, hat sich in den vergangenen dreißig Jahren immer wieder mit dem Fußball in Osteuropa beschäftigt.
„Man hat also im KGB damals schon festgestellt: Die inoffiziellen Fanklubs sind Horte des ukrainischen Nationalismus. Wir wissen, dass der ukrainische Parteichef Scherbizkij unter Breschnew Dynamo Kiew gefördert hat. Und er hat gesagt: Das ist ein Ventil, das müssen wir rauslassen. Das sollen die Fans ruhig machen. Wir kontrollieren das, aber ein bisschen dürfen sie das. Damit uns der ganze Laden nicht um die Ohren fliegt.“

Zornige Briefe gegen die Hauptstadt

Das Politbüro nahm den Fußball ernst, aber nicht so ernst wie politische Dissidenten oder regimekritische Künstler. In Minsk, in Tiflis oder auch in Kiew brachten Fußballfans fernab der Stadien ihre lokale Identität zum Ausdruck, etwa durch selbstgestrickte Schals.
Zwischen Dynamo Kiew und Schachtar Donezk bestand eine erbitterte Rivalität. Doch für Spiele gegen Moskauer Mannschaften verbündeten sich die ukrainischen Fanlager. Etliche Anhänger schickten Briefe und Telegramme an Lokalzeitungen und Behörden. Darin schimpften sie gegen Schiedsrichter aus der Hauptstadt. Oder forderten mehr Geld für Dynamo Kiew. Thomas Urban:   
„Man konnte aus diesem Archiv der Leserbriefe lesen, dass sehr viele Autoren Ukrainisch geschrieben haben, obwohl das von den Behörden eigentlich gar nicht gewollt war. Kiew war ja zur Sowjetzeit ganz stark russifiziert. Aber die eingefleischten Fans, die schrieben dann auf Ukrainisch. Das wurde dann natürlich nicht veröffentlicht. Wobei wir sagen müssen: Der ukrainische Nationalismus ist nicht nur ukrainischsprachig, sondern im Ostteil der Ukraine ist er auch russischsprachig. Also in Donezk und Charkow gab es auch Fanklubs, wo man natürlich Russisch geredet hat, aber die haben gesagt: Wir sind Ukrainer.“

UdSSR engagiert Trainer von Dynamo Kiew

Lange kamen die besten Klubs der UdSSR aus Moskau. In anderen Teilrepubliken schafften es meist nur die Hauptstadtklubs ins Spitzenfeld der sowjetischen Liga.
Anders in der Ukraine, wo der Erfolg breiter verteilt war. Dort gewannen auch Schachtar Donezk, Dnipro Dnipropetrowsk, Metalist Charkiw oder Sorja Luhansk vereinzelt Meisterschaft oder Pokal. Souverän an der Spitze aber lag Dynamo Kiew mit 13 sowjetischen Meisterschaften, dazu zwei Europapokalsiege der Pokalsieger.
Walerij Lobanowskyj im September 1988 bei einem Fußball-Länderspiel von Deutschland gegen die UdSSR.
Walerij Lobanowskyj im September 1988 bei einem Fußball-Länderspiel von Deutschland gegen die UdSSR. (imago)
Im Zentrum des Kiewer Erfolges stand der Trainer Walerij Lobanowskyj, der mit wissenschaftlichen Methoden und einem beachtlichen Trainerstab den Fußball auf ein neues Niveau hob. 1975 wurde Lobanowskyj zum Nationaltrainer der Sowjetunion ernannt. Er ließ die besten Spieler von Dynamo Kiew als Gerüst für die UdSSR spielen, erinnert Marin Brand, Mitherausgeber des Buches „Russkij Futbol“:
„Die Erzählungen sagen, dass das eine sehr große Rivalität zwischen der Ukraine und Moskau ausgelöst hat. Dass, wenn immer es schlecht schlief für die sowjetische Nationalmannschaft, Lobanowskyj auch entlassen wurde. Er war ja immerhin dreimal Trainer. Das heißt, zweimal wurde er rausgeworfen, während er gleichzeitig Trainer bei Dynamo Kiew blieb. Zumindest in der Ukraine erzählt man sehr gerne, dass das eben politische Hintergründe hatte.“
Häufig fühlten sich Ukrainer von Moskau dominiert. Sogar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als das russische Nationalteam an der Qualifikation für die WM 1994 teilnehmen durfte, die Ukraine allerdings noch nicht. Und so nahmen einige sowjetisch-ukrainische Spieler die russische Staatsbürgerschaft an, sagt die Historikerin Kateryna Chernii, die sich am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam mit der Transformation des ukrainischen Fußballs beschäftigt.
„Und dazu noch ein finanzieller Aspekt: Die ukrainische Mannschaft damals war fast pleite. Das Geld, das es noch gab, hat der russische Verband übernommen. Der ukrainische Verband konnte damals keine Flugtickets für die Fußballspieler bezahlen. Sie hatten wirklich gar nichts.“

Fußball-Spielfilm als Propaganda

Seit mehr als dreißig Jahren ringen Ukrainer und Russen um historische Deutungen, auch im Fußball. Ein Beispiel ist das so genannte „Todesspiel“ während der deutschen Besatzung in Kiew 1942. Damals gewann ein Team mit etlichen früheren Spielern von Dynamo Kiew gegen eine Auswahl der deutschen Flugabwehr. In der Sowjetunion wurde unter anderem in einem Spielfilm verbreitet, dass die Kiewer Spieler von der SS erschossen wurden. Dies wurde später widerlegt. Dennoch hält sich die pro-sowjetische Deutung auch heute noch in Russland, sagt Thomas Urban.
„Es gab eine Neuauflage dieses Films 2012 pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, gedreht in den Moskauer Fernsehstudios. Und es wird auch viel Ukrainisch geredet. Und alle die Ukrainisch reden, sind Kollaborateure der Deutschen. Und alle, die Russisch reden, sind gute Bürger und sind gegen die Deutschen. Das ist eine anti-ukrainische Geschichte. Deswegen durfte dieser Film nicht gezeigt werden in den ukrainischen Kinos 2012.“
An Mittwoch möchte die Ukraine einen wichtigen Schritt gehen, um sich für die Weltmeisterschaft in Katar zu qualifizieren. Das russische Team ist bereits ausgeschlossen worden. Für die Ukraine wäre die WM ein Zeichen der Hoffnung – und ein Symbol der Souveränität.