Alexej Gordjejew nahm an den Demonstrationen in Kiew teil. Von Anfang an stand er auf dem Maidan, setzte sich erst für eine EU-Anbindung der Ukraine ein, dann für den Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Auch beim Kampf zwischen Demonstranten und Berkut-Polizei war er dabei. Gleichzeitig ist der 29-Jährige aktives Mitglied der freien evangelischen Gemeinde in Kiew. Dass verschiedene Kirchen damals auf dem Maidan präsent waren, war für ihn sehr wichtig:
"Die Protesteilnehmer konnten häufig auf die Infrastruktur von Kirchen zurückgreifen, daher die Sprechchöre: 'Die Kirche ist mit dem Volk'. Am 4. Dezember 2013 stellten die Demonstranten auf dem Maidan das sogenannte Gebetszelt auf. Am Anfang haben sich die Menschen dort getroffen und gebetet. Aber mit der Zeit wurde das Zelt zum Ort für Seelsorge, für psychologische Gespräche. Die Geistlichen halfen den Menschen, mit den traumatischen Erlebnissen fertig zu werden, mit dem [...] Tod um sie herum. Mich hat das tief beeindruckt."
Alexej Gordjejew hat gerade das Buch "Kirche auf dem Maidan" veröffentlicht. Er zeichnet die Ereignisse nach - aus der Perspektive von 28 Gläubigen, die wie er einer protestantischen Gemeinde angehören. Die Geschichten zeigen, welche Rolle die Religion bei den Protesten spielte. Sie weisen aber auch über den Maidan hinaus. Sie werfen ein Licht auf die Folgen für die Religiosität der Menschen.
Religion als Friedensstifter auf dem Maidan
Bei den Demonstranten wurde die Macht religiöser Überzeugungen immer wieder deutlich. So in der Nacht auf den 30. November 2013. Polizisten prügelten auf die damals versammelten Studenten ein, diese flohen in die Michaels-Kathedrale. Ein Geistlicher hatte ihnen das Tor geöffnet. Die Polizisten folgten ihnen - aber nur bis zum Tor, weiter trauten sie sich nicht.
"Ohne Gläubige, ohne Geistliche, die sich überall engagierten, wären auf dem Maidan nicht 100, sondern 1.000 Menschen gestorben. Das ist die Hauptbotschaft meines Buches: Die Kirchen haben auf dem Maidan Frieden gestiftet. Sie haben die Demonstranten davon abgehalten, auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren. Sie haben sie gewarnt, auf Provokationen nicht einzugehen."
Es gibt Fotos, die Geistliche zwischen den Reihen der Berkut-Polizisten und den Demonstranten zeigen. Auch Ralf Haska, Pfarrer der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Kiew, stellte sich den Polizisten entgegen - und wurde dabei von einem Gummigeschoss an der Hand verletzt.
Die verschiedenen christlichen Konfessionen waren allerdings in diesen Tagen alles andere als eine Einheitsfront. Einige protestantische Gemeinden lehnten es ab, sich zu engagieren: etwa die Adventisten. Glaube und Staat müssten getrennt bleiben, so ihr Argument. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche Kiewer Patriarchats war sehr aktiv auf dem Maidan. Anders dagegen die Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats. Sie stellte sich nicht auf die Seite der pro-westlichen Demonstranten.
Spaltung in der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche
Diese Spaltung der Orthodoxen gibt bis heute - angesichts des Konflikts in der Ostukraine. Die Separatisten im Donezk-Becken erkennen nur das Moskauer Patriarchat an. Die Anhänger des Kiewer Patriarchats würden dort verfolgt, sagt deren Sprecher Erzbischof Jewstratij.
"Die Vertreter der sogenannten Volksrepubliken in Donezk und Luhansk lehnen alle Konfessionen ab - außer der russischen Orthodoxie. Auch die Griechisch-Katholischen, so heißt in der Ukraine die Unierte Kirche, und die protestantischen Kirchen sind dort unerwünscht. Wir können dort nicht mehr offen agieren, das wäre gefährlich für die Gläubigen und für die Geistlichen."
Westlich orientierte Priester hätten fliehen müssen, nachdem sie Gottesdienste abhielten oder Beerdigungen begleiteten, so Jewstratij. In manchen Kirchen hätten die Separatisten Gemeinschaftsunterkünfte eingerichtet. Noch schlimmer erging es manchen evangelischen Gemeinden. In Slowjansk im Bezirk Donezk brachten Separatisten zwei Diakone und zwei Söhne des Pfarrers um.
Für die Ukrainischen Orthodoxen Moskauer Patriarchats bedeutet der Konflikt eine Zerreißprobe. Die Separatisten wollen sie für sich vereinnahmen. Außerdem ist die Kirche an die Orthodoxe Kirche in Russland angebunden, die sich eindeutig auf die Seite der Separatisten stellt. Auf der anderen Seite kann die Kirche ihre ukrainischen Gläubigen nicht vor den Kopf stoßen. Vereinzelt kam es zu Protesten. Manche Gemeinden liefen geschlossen zum Kiewer Patriarchat über.
Der Sprecher des Moskauer Patriarchats in Kiew, Igumen Pafnuty, versucht deshalb, auf Schuldzuweisungen zu verzichten.
"Wenn alle Verantwortlichen sich mehr um ihr geistliches Leben gekümmert hätten, Sünde, Hass und Feindschaft nicht in ihr Herz gelassen hätten, dann hätte der Herr sie vor ihren falschen Taten bewahrt. Jeder von uns sollte Reue zeigen. Alle sind schuld, die ganze Gesellschaft, wegen ihrer Gottesferne. Jeder sollte jetzt auf seinen Nächsten zugehen, ihm helfen und ihn stärken. So geben wir den Frieden Schritt für Schritt weiter, und mit Gottes Hilfe geht das Blutvergießen zu Ende."
Diese scheinbar neutrale Haltung ist für die anderen Kirchen der Ukraine ein Skandal. Separatisten lassen sich in den Gotteshäusern der Moskauer Orthodoxen trauen - in ihren Uniformen, einige Priester segnen sogar Waffen.
Immer mehr gläubige Ukraine würden dem Moskauer Patriarchat den Rücken kehren, meint Buchautor Alexej Gordjejew.
"Diese Kirche wird sich immer weiter diskreditieren, und das werden immer mehr Gläubige merken. Sie findet einfach nicht die Kraft, sich von den Popen zu distanzieren, die den Separatisten helfen. Diese Geistlichen helfen ja sogar beim Transport von Waffen und geben ihnen Ratschläge. Die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats verschweigt dieses Problem einfach, sie will es aussitzen. Aber das wird ihr kaum gelingen, denn dieser Konflikt wird noch Jahre dauern."
Der Glaube schweißt zusammen
Die anderen Kirchen würden von den Ereignissen dagegen profitieren, meint Gordjejew. Denn insgesamt würden die Ukrainer religiöser. Dieser Trend ist seit Jahren zu beobachten. Die Menschen haben kaum Vertrauen in die staatlichen Institutionen, vor allem wegen der so weit verbreiteten Korruption. Dementsprechend gewannen die Kirchen an Autorität hinzu. Der Maidan habe sie und die Gläubigen noch enger zusammengeschweißt, so Gordjejew.
"Die Kirchen, die sich beim Maidan engagierten, haben verstanden, dass ihre Mitglieder nicht nur geistliche Wesen sind. Sie sind ganze Menschen. Ihnen gilt es zuhören. Sie bedürfen moderner Antworten auf ihre Fragen. Die Kirchen gehen darauf immer stärker ein. Umgekehrt ist der Glaube der Menschen existenzieller geworden. Sie haben gesehen, dass der Glaube hilft, im Jetzt und Hier. Ihr Glaube hat sich dadurch grundlegend verändert."
Gordjejew, der selbst aus Sewastopol, von der Krim, stammt, hat sein Buch zuerst auf Russisch geschrieben. Durch die Geschichten der Gläubigen will er den Menschen in Russland den Maidan näher bringen. Der Gedanke scheint weit hergeholt. Und doch wird das Buch in Russland wahrgenommen.
Der staatliche russische Fernsehsender "Rossija24" wies auf die Veröffentlichung hin, behauptete dabei aber, Alexej wolle sich nur eine goldene Nase verdienen. Der Autor winkt ab: Die Kritik zeige doch nur, dass er einen wunden Punkt berührt habe.