Kaum ist die Liturgie vorbei, verschwindet Petro Bokanov in einem Nebenraum, legt seinen schwarzen Umhang ab, darunter trägt er eine Wyschywanka, ein weißes Hemd mit blauen, geometrischen Stickmustern, sie gelten als traditionell ukrainisch. Muster, die an diesem Januartag viele hier tragen – denn sie feiern das orthodoxe Weihnachtsfest nach. Einige Dutzend sind gekommen.
Während der Priester Petro Bokanov sich noch umzieht, greifen die Gäste in der großen Halle, mit den holzvertäfelten Wänden aus den 60er-Jahren, auf das üppige Feiertagsbuffet zu. Auf mehreren Tischen stehen Speisen bereit. Darunter auch Salo, so heißt der Rückenspeck, der in der Ukraine meist mit Schwarzbrot und Pfeffer gegessen wird.
Bokanov, der kräftige Mann mit dem freundlichen Blick und hellem Drei-Tage-Bart, ist erst seit vier Jahren Priester. Er selbst besuchte früher die Gottesdienste der russisch-orthodoxen Auslandskirche in Mannheim. Doch als Russland 2014 die Krim annektierte, hat er es dort nicht mehr ausgehalten, denn viele Gemeindemitglieder sprachen davon, "dass die Ukrainer Nazisten sind, das Krim immer russisch war und das es richtig gemacht worden ist und die russische Sprache unterdrückt worden ist", sagt Bokanov.
"Ein Riesenbedarf an Betreuung durch den Krieg"
Ansichten, die damals durch staatliche russische Medien permanent verbreitet wurden. Bokanov, der eigentlich in Mannheim lebt, schaute sich um und fand eine ukrainisch-orthodoxe Gemeinde in Frankfurt. Die hielt gerade nach einem neuen Priester Ausschau.
"Es gab Riesenbedarf an pastoraler Betreuung, besonders wegen der Kriegssituation, jemand musste das Amt übernehmen. Stellen Sie sich vor, wie man sich fühlt, wenn im Osten Krieg läuft, Krieg mit Toten, mit Elend. Die brauchen Unterstützung und auch Unterstützung von Seiten der Kirche."
Und so hat Bokanov das Priesterseminar besucht und sich zum Priester weihen lassen. Seitdem ist er kreuz und quer durch die Region unterwegs. So wie auch an diesem Sonntag.
"Unterstützung für die Ukraine"
In der schmucklosen Halle in Altendiez wird viel gesungen. An der Feier nehmen viele Eltern mit ihren Kindern teil. Nicht alle unter ihnen sind gläubig oder gehören der ukrainisch-orthodoxen Kirche an. Das sei auch egal, es gehe vielmehr darum, zusammen zu sein und die gleichen Werte zu teilen, sagt Bokanov.
"Wir sind nicht nur reine Gläubige, die nur in Kirche gehen, Liturgie machen, Messen feiern. Unsere Kirche hat in den letzten vier Jahren eine große Unterstützung für die Ukraine geleistet, indem wir humanitäre Hilfe sammeln, Verletzte, die in Deutschland sich im Bundeswehrkrankenhaus befinden. Und dann kommt die Kirche dazu, wir betreuen sie pastoral."
"Du konntest dort jeden Tag verletzt oder getötet werden"
Bokanov kommt aus Kiew. Er war Lehrer für Russisch und russische Literatur, doch gut leben konnte er davon nicht, er wechselte in die Werbebranche. Vor 22 Jahren kam er dann gemeinsam mit seiner Frau nach Deutschland, machte eine Umschulung zum Fachinformatiker und arbeitet nun als Programmierer in einem SAP-Beratungshaus.
Seine Freizeit widmet er ganz hauptsächlich der Kirche und seinen Gemeinden in Frankfurt und Mannheim. Am Wochenende besucht er auch verwundete ukrainische Soldaten im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz. Er selbst war bereits mehrmals als Militärseelsorger an der Front in der Ostukraine. Auch um zu verstehen, was die Soldaten dort erlebt haben.
"Jetzt kann ich mit denen, die im Krankenhaus behandelt werden, auf Augenhöre sprechen, ich verstehe die gut, weil ich das auch erlebt habe, diese Situation, das ist ein ganz anderes Leben dort, dort konntest du jeden Tag verletzt oder getötet werden."
"Ich bin freiwillig an die Front gegangen"
Vier dieser Soldaten sind an diesem Tag auch in Altendiez. Sie stehen vor der Veranstaltungshalle und rauchen. Einer sitzt im Rollstuhl, der andere steht auf Krücken. Ein Mann in einem blauen Trainingsanzug trägt einen dicken weißen Verband um seinen Arm. Bokanov lässt sich zu einer Zigarette überreden, obwohl er eigentlich aufgehört hat zu rauchen. Während er an seiner Zigarette zieht, fragt er die Männer danach, wie es ihnen geht.
Einer von ihnen ist Aleksej. Seit Mai wird er im Bundeswehrkrankenhaus behandelt. Er sitzt im Rollstuhl. Unter seiner blauen Trainingshose sind die Umrisse einer Schiene zu erkennen. Sein Gesicht ist von einigen Narben gezeichnet.
"Es ist im Kampf passiert. Wir wurden von einer Panzerabwehrrakete getroffen. So war es nun mal."
Viel mehr will Aleksej über die Kämpfe nicht erzählen. Früher hat er als Unternehmer gearbeitet. Doch nachdem er in den Krieg gezogen war, ist es mit seiner Firma bergab gegangen. Vier Jahre hat er im Osten der Ukraine gekämpft.
"Ich bin freiwillig an die Front gegangen, konnte nicht eingezogen werden, weil ich drei Kinder habe. Aber ich bin Offizier. Ich habe 200 Kilometer von der Front gelebt, also ganz nah. Ich wollte nicht, dass meine Kinder wissen, was Krieg ist, deswegen bin ich hin."
Wie lange er noch in Deutschland bleiben wird, weiß er nicht. Seine Familie lebt immer noch in der Ukraine. Gegen die Einsamkeit helfen ihm auch die Gespräche mit dem Seelsorger Bokanov.
Jemand, der die Sprache und Mentalität der Menschen kennt
"Jeder von denen braucht eine psychologische Unterstützung und eine psychologische Behandlung. Im Krankenhaus gibt‘s keinen Psychologen der Russisch oder Ukrainisch beherrscht. Sie können einen deutschen Psychiater zur Verfügung stellen, aber das bringt nichts, weil sie können die Sprache nicht und auch die Mentalität nicht von den Leuten. Und wir sprechen miteinander, einfach so", sagt Bokanov.
Priester im Ehrenamt
Mehr als 120 ukrainische Soldaten wurden in den vergangenen fünf Jahren in den Bundeswehrkrankenhäusern bundesweit behandelt. Ukrainische Seelsorger gibt es aber nur wenige. Und so legt der Priester am Wochenende zum Teile hunderte Kilometer zurück, um seine Gemeindemitglieder zu betreuen. Für seine Arbeit bekommt er kein Geld, alles Ehrenamt sagt er. Zufrieden ist er trotzdem.
"Ich fühle mich in der Pflicht, das zu machen, weil ich sehe den Bedarf und ich sehe an den Augen der Leute, dass die das brauchen. Und dann gibt es mir ein gutes Gefühl, dass ich das nicht umsonst tue."