Natalia Schtschokotowa holt einen Stapel Fotos aus einem Kuvert: Ein Unterrichtsraum, in dem die halbe Decke eingebrochen ist, Menschen, die in Kellern sitzen. So sah das Viertel von Donezk aus, als ihre Familie geflohen ist - vor knapp drei Jahren:
"Die Bomben sind uns buchstäblich über den Kopf geflogen. Einige Nachbarn von uns sind gestorben. Als die Kämpfe dann sogar tagsüber ausgebrochen sind, habe ich gesagt: Schluss, wir müssen noch heute von hier weg. Wir haben die Kinder genommen und sind losgefahren."
Die richtige Entscheidung: Inzwischen ist auch das Haus der Familie Schtschokotow zerstört. Sie lebte im Norden von Donezk, in der Nähe des Flughafens - Schauplatz der schlimmsten Kämpfe zwischen den von Russland unterstützten Separatisten auf der einen und ukrainischen Kämpfern auf der anderen Seite.
Natalia blickt auf ihre beiden Kinder - Katerina, sieben Jahre alt, und Maxim, fünf Jahre alt. Die beiden spielen mit einem Puppenhaus aus Plastik.
"Hier in Polen, in Warschau ist es eigentlich sehr sehr gut zu leben. Es ist ruhig. Maxim war nervös und aggressiv. Aber die psychologische Betreuung hat ihm geholfen. Vielleicht haben die beiden damals in Donezk nicht begriffen, was vor sich geht. Aber sie haben gesehen, wie ich gezittert habe. Das hat sich auf sie übertragen."
Leben in ständiger Angst
Und doch: Ganz entspannt kann die Familie in Warschau nicht leben. Denn die Ausländerbehörde hat ihren Antrag, in Polen als Flüchtlinge anerkannt zu werden, immer wieder abgelehnt. Ihr Hauptargument: Die Familie hätte, nach ihrer Flucht, nicht nach Polen kommen müssen. Sie hätte in dem Teil der Ukraine bleiben können, wo nicht Krieg herrscht.
Die 33-jährige Natalia ist da anderer Ansicht. Sie holt ein dickes Heft heraus: Sie hat internationale Berichte über die Menschenrechtslage in der Ukraine exzerpiert. So ein Bericht von Amnesty International von 2016, aus dem hervorgeht: Nicht nur im Separatistengebiet, auch in der übrigen Ukraine wurden damals Zivilisten ohne Rechtsgrundlage für viele Monate festgenommen.
Natalias Mann Andrij[*] setzt den kleinen Maxim für einen Moment auf das Stockbett, das im Wohnzimmer steht. Er fügt hinzu: Als Binnenflüchtling in der Ukraine hätte er seine Familie nur schwer ernähren können, ganz anders in Polen:
"Als Fachkraft wird man hier überall sehr gerne eingestellt. Ich bin Sanitärinstallateur und habe hier ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Kollegen. Sie haben sogar angeboten, mir zu helfen, damit wir hier einen Aufenthaltsstatus bekommen. Zurzeit arbeiten wir auf einer Baustelle, wir installieren die Wasserversorgung für neue Mehrfamilienhäuser."
Allerdings darf Andrij immer nur für einige Monate arbeiten, wenn die Behörde gerade wieder einen neuen Antrag der Familie angenommen haben. Wenn die Ablehnung kommt, muss der 38-Jährige pausieren. Dann können die Ukrainer nur mit Mühe die kleine Zweizimmerwohnung in einem Warschauer Außenbezirk halten.
Scheinheilige Politik
Als scheinheilig empfinden es die Schtschokotows da, dass sich die polnische Regierung mit den vielen Ukrainern brüstet, die in Polen leben. Und sie als Argument gegen die EU-Kommission benutzt, die eine automatische Verteilung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten will. So Ministerpräsident Mateusz Morawiecki:
"Wir nehmen in Polen keine Flüchtlinge oder Emigranten aus dem Nahen Osten und aus Afrika auf. Wir tragen schließlich schon dazu bei, Spannungen am östlichen Rand der EU abzubauen. Wenn in den vergangenen Jahren bis zu 1,5 Millionen Ukrainer zu uns gekommen sind, dann sind darin mindestens einige Zigtausend, die zu uns aus dem dortigen Kriegsgebiet geflohen sind."
Doch die Zigtausenden, von denen der Regierungschef spricht, sind keine Flüchtlinge, es sind Gastarbeiter. Sie haben sich selbstständig um Unterkunft und Arbeit gekümmert und haben keinen Anspruch auf staatliche Hilfe. Einen Flüchtlingsstatus hat Polen bis Ende des vergangenen Jahres weniger als 200 Ukrainern gewährt, die meisten Anträge werden abgelehnt.
Warum sind die Schtschokotows dann nicht auch einfach als Gastarbeiter eingereist?
"Als wir geflohen sind, waren unsere Kinder sehr klein, wir hätten kein Visum für alle bekommen. Wir können auch nicht jetzt zurück in die Ukraine fahren, um als Gastarbeiter wiederzukommen. Der Grenzschutz hat uns - als abgelehnten Flüchtlingen - ein Einreiseverbot für sechs Monate in den Pass gestempelt."
Ende des Monats wird über den Antrag entschieden
Bis Ende des Monats heißt es bei Schtschokotows wieder zittern: Dann werden die Behörden über ihren erneuten Antrag entscheiden. Wenn die Familie ausreisen müsste, wäre das besonders schlimm für die siebenjährige Katerina:
"Sie geht schon in die zweite Klasse, sie hat hier Freunde, die Lehrerin hat ihr für die Behörde extra eine sehr gute Beurteilung geschrieben. Kinder, vor allem traumatisierte Kinder, darf man doch nicht immer wieder irgendwo anders hinbringen."
Anmerkung der Redaktion: Im gesendeten Beitrag wurde irrtümlich ein falscher Vorname genannt. Das haben wir in der Textfassung korrigiert. Das Online-Audio entspricht weiterhin der Sendefassung.