Christiane Florin: Unser Gespräch wird am Reformationstag gesendet. Sie sind in einem rheinisch-katholischen Dorf aufgewachsen – wie viele Protestanten haben Sie gekannt in Ihrer Kindheit?
Ulla Hahn: Gar keine. Die waren auf dem Schulhof die Personen, die in den Pausen in kleinen Ecken stehen durften, während wir mit unserer katholischen Übermacht den Schulhof quasi okkupiert haben. Nein, ich habe keine gekannt. Erst später, als ich mich dann in einen protestantischen Jungen verliebte, ...
Florin: Durfte das sein?
Hahn: Nein, das durfte gar nicht sein. Da war die Familie aufständisch wie sonst was. Und das ist ja dann auch in die Brüche gegangen.
Florin: Was erzählte man über die Protestanten? Wie waren die so oder wie sollten die sein?
Hahn: Na ja, die meisten Protestanten waren Heimatvertriebene, und die waren sehr suspekt. Die nannte man etwas verächtlich "Müppen". "Müppen", das waren die Menschen, die kamen aus Schlesien und – ja – eben aus diesen Gebieten, und die behandelte man nicht sehr gut. Also, die christliche Nächstenliebe ließ da etwas zu wünschen übrig.
Florin: "Man", haben Sie gesagt – nannten Sie die auch so?
Hahn: Ja, die nannte ich auch so, klar. Wir hatten dabei aber auch überhaupt nicht das Gefühl, denen etwas Böses zu tun. Außerdem kannte ich überhaupt keine. Die wohnten da irgendwo am Rande des Dorfes und waren eben da, aber zählten nicht.
"Mein Vater war ein armer Teufel, ein zerdrückter Mensch"
Florin: Sie sind in einer katholischen Familie aufgewachsen – das haben wir schon angesprochen. Ihr Vater war gewalttätig, hat Sie geprügelt. Er hat auch das, was Ihnen lieb und teuer war – die Bildung, die Bücher, die Welt des Geistes – verächtlich gemacht. Was hatte das mit der Religion zu tun oder mit der Konfession?
Hahn: Das hatte mit der Konfession gar nichts zu tun. Das hatte etwas damit zu tun, dass mein Vater ein ganz armer Teufel war, ein ganz armer, zerdrückter Mensch. Das kann man als Kind nicht wissen, warum der Vater so geworden ist, wie er sich dem Kind gegenüber dann geäußert hat. Denn man weiß von einem Menschen in der Tat nichts, wenn man seine Vergangenheit nicht kennt. Und je mehr ich mir als Jugendliche und dann später als junge Erwachsene von der Geschichte meines Vaters klargemacht habe, nämlich dass dieser arme Mann - ein wirklich bildungshungriger und auch hochintelligenter Mann - , worauf der verzichten musste, was aus meinem Vater regelrecht herausgeprügelt worden ist. Es gibt da (in meinem Roman) diese eine Szene, wo der Stiefvater ein Buch meines Vaters, nämlich Sven Hedin, ein Abenteuerbuch, auf dem Bauernhof in den Mist wirft. Und als mein Vater das dann wieder ausgraben wollte, hat der Stiefvater ihn halb totgeprügelt. All das ist der Hintergrund. Ich glaube, das war etwas, was ich dann zu spüren gekriegt habe, was er eigentlich auf seinen Stiefvater hätte loslassen müssen. Je mehr ich mir das aber klarmachen konnte, desto – ja, wenn Sie so wollen – inniger ist meine Beziehung zu meinem Vater dann auch geworden.
Florin: Sie haben es en passant erwähnt, wir müssen das erklären. Sie haben gerade eine Tetralogie abgeschlossen, also einen Vierteiler. Es ist die Geschichte des Mädchens, des Arbeiterkindes Hilla Palm. Das ist kein autobiographischer Roman, aber ein Roman mit einem autobiographischen Kern. Aus Hilla Palm wird irgendwann Dr. Hilla Palm – um es auf die akademische Karriere zu reduzieren. Ich weiß, es ist eine ganz lange Geschichte, zweieinhalbtausend Seiten. Aber jetzt kurz und radiogemäß: Wie haben Sie es geschafft?
"Was steckt hinter diesem aufsässigen Kind?"
Hahn: Indem ich einfach angefangen habe. "Das verborgene Wort" ist 2001 erschienen. Angefangen hat das mit der Geschichte vom Alpenveilchen, die ich auch erzähle in "Das verborgenen Wort": Das Mädchen, Hilla Palm, darf auf die Realschule gehen. Das Schulgeld zahlt die Gemeinde. Und sie muss sich jetzt Weihnachten für dieses Schulgeld bedanken, bekommt ein Alpenveilchen-Töpfchen, das sie wochenlang erst mal pflegt und zum Blühen bringt und das soll sie dem Bürgermeister bringen. Jetzt kommt sie mit dem Töpfchen zu dem Bürgermeister und sieht, dass die ganze Wohnung voller wunderbarer Pflanzen ist. Und da sagt sie: "Was soll das?" Zack. Und knallt ihm dieses Töpfchen auf die spiegelblank geputzten Schuhe. Ja, so hat das angefangen, mit der Aufforderung: 'Schreiben Sie uns für unser Magazin eine Weihnachtsgeschichte'. Und da habe ich irgendwie gemerkt: Was steckt dahinter? Was steckt hinter diesem aufsässigen Kind, was ist daraus geworden? Und es lag eine lange Zeitspanne natürlich zwischen diesem Ereignis. Und ich wohnte in Hamburg. Das heißt, ich hatte Zeit und Raum meiner Kindheit und Jugend verlassen. So konnte ich auch sehr frei darüber schreiben.
Florin: Und im ganz konkreten Sinne? Ich meine gar nicht nur das Schreiben – wie haben Sie diesen Roman geschafft? –, sondern: Wie haben Sie Ihren Weg geschafft? Wem verdanken Sie das hauptsächlich? Sich selbst?
Hahn: Ja, sich selbst verdankt man immer etwas nur in der Begegnung mit anderen Menschen. Da habe ich ein ganz großes Glück gehabt. Es gibt im "verborgenen Wort" auch diese eine Szene, wo alle aufstehen sollen, die auf weiterführende Schulen gehen. Ich bin natürlich sitzengeblieben. Und da sagt mein Volksschullehrer zu mir: "Steh auf!" Und dieses "Steh auf!" ist, wenn Sie so wollen, so etwas wie ein Motto geworden für mein Leben. Steh auf! Du darfst das! Trau dich! Dann ist der Volksschullehrer zusammen mit dem Pfarrer, dem ich auch sehr viel verdanke – Pfarrer Kreuzkamp, in Wirklichkeit Pfarrer Reinartz – zu meinen Eltern gegangen und das brachte die ganze Sache ins Rollen.
Florin: "Natürlich sitzengeblieben" haben Sie eben gesagt, weil es in dem Horizont Ihrer Familie einfach nicht vorkam, dass ein Mädchen auf die weiterführende Schule gehen sollte.
Hahn: Nein, natürlich nicht. Nein, nein, nein. Also ein katholisches Arbeitermädchen vom Dorf, das können Sie wie die Stecknadel im Heuhaufen suchen.
"Heute hätte ich es als Arbeiterkind leichter"
Florin: Was meinen Sie: Heute, hätten Sie es da leichter oder schwerer?
Hahn: Ich glaube doch leichter. Ja.
Florin: Obwohl der Bildungserfolg – sehr vielen Studien zufolge – von der Herkunft abhängt in Deutschland.
Hahn: Tja, aber die Möglichkeit, etwas aus sich zu machen, ist die nicht größer? Ich weiß, ich lese diese Statistiken ja auch. Ach, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Glaube ich der Statistik oder glaube ich meinem Gefühl? Es gibt doch einfach mehr Chancen. Nur, es kommt immer wieder darauf an, dass irgendwo der säkularisierte Schutzengel – wie ich die gerne nenne, die haben dann Jeans an oder einen Anzug - sagt: 'Hier, komm, ich helfe dir weiter, versuch das mal.' Und deswegen gibt es ja auch in Monheim, also in meinem Heimatort, wo ich aufgewachsen bin, jetzt auch das Ulla-Hahn-Haus. Die haben ein wunderbares Programm, gerade für Kinder und Jugendliche, die es nicht so richtig leicht haben, damit die auch mit Bildung im allerweitesten Sinne in Berührung kommen.
Florin: Wenn man alle vier Bände gelesen hat – und ich habe sie alle gelesen –, dann entsteht der Eindruck, dass alles auf diesen letzten Band zuläuft. Dass alles auf den Schluss zuläuft und auch auf diese Frage: Wie war es möglich, dass ich – Ulla Hahn, Hilla Palm –, die Eigensinnige, die Sensible, die Individualistin, für die DKP gekämpft habe?
Hahn: Ja....
"Ich war der Illusion aufgesessen, meinem Vater hätte es in der DDR besser gehen können"
Florin: ... für die kommunistische Ideologie gekämpft habe. Wie war das möglich?
Hahn: Ja, in der Tat ist das so. Als ich den ersten Band begann beziehungsweise nicht, als ich ihn begann, aber im Fortlauf dieses Bandes, habe ich mir überlegt: Eigentlich ist es genau diese Frage, die Sie jetzt angeschnitten haben, die ich jetzt ausbuchstabieren möchte. An sich hätte ich das gerne alles in einem Buch erledigt, im ersten Band. Dann habe ich aber gemerkt, das geht nicht. Ich muss das wirklich durchdeklinieren. So habe ich mich dann an den vierten Band herangeschrieben. Dieses Leben, diese Vergangenheit, diese einzelnen Stufen, die Herkunft, ganz wichtig: Ich weiß nicht, wenn ich in einem gut bürgerlichen Elternhaus aufgewachsen wäre, wäre mir das wahrscheinlich nicht passiert, wären mir auch viele andere Dinge nicht passiert. Aber es war so. Und von dieser Herkunft her habe ich mich dann an den vierten Band auch rangeschrieben.
Ich war in der Tat der Illusion aufgesessen, meinem Vater hätte es wohl bessergehen können, wenn er in einem sozialistischen Deutschland aufgewachsen wäre. Das sozialistische Deutschland war die DDR. Mein Bild von der DDR war in erster Linie geprägt von Literatur. Es gab ja da die Bücher aus der Aufbruchzeit der DDR: Hermann Kant, "Die Aula", wo also die Arbeiter auf diese Arbeiter- und Bauernfakultät gehen können, etwas lernen können, schöne Berufe ergreifen und so weiter und so fort. Ja, das hätte ich meinem Vater alles gerne ermöglicht. Das war das Eine. Das Zweite war, dass der Halt, den Hilla Palm gefunden hatte – Hugo Breidenbach, ihre große Liebe, die standen ja kurz vor einer Heirat – stirbt, und jetzt ist der Sinn des Lebens mitgestorben. Da ist eine große Leere, da ist ein Loch – dieses Loch musste befüllt werden.
Florin: Insofern war auch das Private politisch, dass der private Verlust zu der Anfälligkeit für die Ideologie führt.
Hahn: Ja. Ja, da haben Sie völlig Recht.
Florin: Kommunion und Kommunismus, wie gehört das zusammen?
Hahn: Da gibt es natürlich auch viele Parallelen, die mich damals begeistert haben. Nehmen Sie die Befreiungstheologie. Nehmen Sie einen Dom Hélder Câmara. Nehmen Sie einen Ernesto Cardenal, dem ich neulich noch mal begegnet bin.
Florin: Aber das waren keine Marxisten.
Hahn: Na ja, ja, ja. Das waren schon Marxisten.
Florin: Es wurde von Rom gesagt, das seien Marxisten, aber da kam ja noch ein Gott vor.
Hahn: Na ja. Ja, natürlich kam da noch ein Gott vor. Ich weiß nicht, ob Jesus sich nicht mit Marx ganz gut vertragen hätte in vielen Punkten. Warum eigentlich nicht?! Ich meine, wer wollte nicht das Bessere für die Menschheit? Fragt sich nur wie.
Florin: Der französische Soziologe Didier Eribon stammt – wie Sie – aus dem Arbeitermilieu. Und er hat auch ein autobiographisch inspiriertes Buch darüber geschrieben. Da schreibt er sinngemäß: ,Als ich meine Familie verlies – und ich musste sie verlassen –, da war die links, da war sie kommunistisch. Und als ich dann viel später zurückkehrte, da war sie rechts, da war sie Front National.‘ Womit erklären Sie sich den Rechtsruck in Deutschland jetzt?
"Merkel hat gezeigt, was es heißt, christliches Abendland zu sein"
Hahn: Wahrscheinlich auch mit so einer Sinnleere. Denn es sind ja nicht nur die sozial schwachen Schichten, die jetzt nach rechts rücken, sondern ich erlebe da fürchterliche Äußerungen auch von Leuten, von denen ich es nie für möglich gehalten hätte, ja?
Florin: Was zum Beispiel?
Hahn: Na ja, also diese Phobie vor den Flüchtlingen. Das sind auch Menschen, die gehen – was Sie sagen – an die Kommunionbank mit spitz gefalteten Händen. Aber, wenn es dann auf die christliche Nächstenliebe ankommt, dann kommen da Äußerungen, die mich sprachlos machen.
Florin: Sie haben Wahlkampf gemacht für Angela Merkel, zumindest sind Sie bei einer Veranstaltung der CDU aufgetreten. Ihr Mann ist der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi, was sagt der dazu?
Hahn: (lacht) Das ist eine komische Frage. Was soll der dazu sagen?
Florin: Findet er das gut? Oder sagt er: 'Du hast eh deinen eigenen Kopf, ich kommentiere das gar nicht'?
Hahn: Der findet das gut. Wenn Sie meinen Mann fragen würden: Ist Angela Merkel eine gute Bundeskanzlerin? Würde der uneingeschränkt so antworten, wie ich, nämlich mit "Ja". Ich finde diese kleinen Ekligkeiten gegen Angela Merkel, so diese Sticheleien, sie hätte das doch alles besser und so weiter und so fort, das hat nun mit christlichem Abendland überhaupt nichts mehr zu tun. Sie hat wirklich da gezeigt, was es heißt, christliches Abendland zu sein. Nämlich Nächstenliebe wirklich praktisch zu leben.
"Ich habe mit der CDU nichts am Hut"
Florin: War es ein weiter Weg von der DKP zur CDU?
Hahn: Ich habe mit der CDU nichts am Hut. Das können Sie mir glauben. Nein. Ich habe überhaupt mit keiner Partei was am Hut. Schauen Sie, das ist eine der wirklichen Lebensweisheiten: Ich bin, seit ich dieser Ideologie einmal aufgesessen bin, ich bin, wie soll ich sagen, wie Siegfried vom Drachenblut bin ich immun gegen jede Art von Verein. Selbst der Zentralrat der Katholiken, der mich gefragt hat, ob ich nicht beitreten will: Nein, nein, nein.
Florin: Zentralkomitee der Katholiken.
Hahn: Zentralkomitee, ja. Ich will damit sagen, dass ich nirgendwo mehr etwas vertreten möchte, was ich nicht wirklich ganz subjektiv auch unterschreiben könnte.
Florin: "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" – das war der Slogan der CDU. Was sagt die Sprachkritikerin Ulla Hahn dazu oder die sprachsensible Ulla Hahn dazu?
Hahn: Ach Gott, warum soll man da nicht gut und gerne leben?! Was haben Sie dagegen?
Florin: Ich frage nur. Ich habe weder etwas dafür, noch etwa dagegen. Ich habe es mich nur gefragt, vor allem angesichts des unaussprechlichen Kürzels FEDIDWGUGL.
Hahn: Ja, das finde ich albern. Das war albern.
Florin: Ihre Romanfigur Hilla Palm sammelt schöne Wörter, Sie selbst auch. Und da wir am Reformationstag miteinander sprechen, muss ich Ihnen ja die Frage stellen: Sind Sie auch mal bei Martin Luther fündig geworden mit schönen Wörtern?
Jeden Sonntag Luther-Bibel
Hahn: Ich kann Ihnen jetzt nichts sagen zu einzelnen Wörtern. Ich kann Ihnen nur sagen wie mein Mann und ich die Sprachgewalt Martin Luthers im ganz privaten Rahmen jeden Sonntag genießen. Und zwar nehmen wir uns jeden Sonntag das jeweilige Evangelium vor, das gelesen wird. Dann holen wir die Vulgata, lesen das Ganze auf Latein und zum Schluss – als Krönung – holen wir Martin Luther und ergötzen uns an seiner Version. So etwas prägt. Und dann machen wir noch ein Übriges, dann holen wir noch den alten Schott und lesen das Evangelium vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil.
Florin: Das heißt aber auch, wenn Sie jetzt das Christentum so zelebrieren: Das Christentum, die Auseinandersetzung mit "Demdaoben", die hat doch länger überdauert als die DKP, als die Auseinandersetzung mit Marx und dem Kommunismus.
Hahn: Na, Gott sei Dank, kann ich da nur sagen. Das ist ja nun auch etwas, was dem Christentum allgemein – Gott sei Dank – zugeschrieben werden kann. Ich glaube, diese marxistische Ideologie – jedenfalls in dieser Ausprägung – hat sich in der Tat überlebt. Das Gefühl für Gerechtigkeit, für mehr Gleichheit, das wird sicherlich bleiben, aber bitte nicht so umsetzen.
Florin: Wir haben eingangs über die konfessionelle Spaltung Deutschlands gesprochen, die vor einigen Jahrzehnten als Sie Kind waren, noch stärker war als heute. Welche Spaltungen sehen Sie heute in Deutschland?
Hahn: Ja, natürlich. Einmal die Flüchtlingsfrage, also, das Integrationsproblem. Das ist ein großes Problem. Und dann die Spaltung zwischen Bildungsfernen und denen, die Bildung haben. Wobei, mehr Gerechtigkeit - wissen Sie, das sind auch alles so Phrasen. Weil ich da konkret auch nicht mit beschäftigt bin. Ich kenne die Leute nicht. Ich habe jetzt drei Jahre – das ist überhaupt etwas – drei Jahre quasi in Klausur gelebt. Das hat mich erreicht als – ja, wie soll ich sagen – als Nachrichten, aber nicht als Wirklichkeit.
Florin: Sie sind nicht nur eingetaucht in Ihre eigene Lebensgeschichte, sondern auch in die Geschichte der jungen Bundesrepublik.
"Jeder hat die Chance, etwas aus seinem Leben zu machen"
Hahn: Ja.
Florin: Was prägt Ihre Einstellung dazu? Ist das Wehmut, ist das eher so: 'Ach, gut, dass wir das überstanden haben, da waren so viele Jugendsünden, so viele ideologische Verirrungen', ist es Dankbarkeit, dass es so weitergegangen ist nach dem Krieg und nicht wie in der DDR?
Hahn: Ja, es ist eine große Dankbarkeit. Auf jeden Fall. Und ich finde dieses – ja, wie soll ich sagen –, dieses Gemecker an allem und jedem, das finde ich auch ungerechtfertigt. Weil: Schauen Sie sich in der Welt um, schauen Sie sich in Europa um, reisen Sie. Meine Güte, warum will alles ausgerechnet nach Deutschland? Uns geht es so gut und ein bisschen Dankbarkeit auf jeder Ebene und auch das Gefühl von dem, was man hat, durchaus etwas abgeben zu können für diejenigen, die es nicht haben, meine Güte, das kann doch nicht so schwer sein.
Florin: Aber vielleicht hat nicht jeder Grund, dankbar zu sein, sondern hat auch Grund zur Kritik, fühlt sich abgehängt, fühlt sich überhört?
Hahn: Ja.
Florin: Was sagen Sie denen?
Hahn: Was sage ich denen? Dann sollen sie ihre Belange in die Hand nehmen und sehen, dass sie etwas ändern können.
Florin: So wie Hilla Palm.
Hahn: So, wie Hilla Palm. Aber wissen Sie, es gibt so viele Institutionen ... Also, ich habe ja auch diese Wahlkampfdinge gesehen, wo diese eine Putzfrau Angela Merkel angemeckert hat. Meine Güte, diese Frau war eloquent, die war höchstwahrscheinlich auch intelligent – warum muss sie beharren auf ihrer Stellung als Putzfrau? Sie hatte jede Chance irgendetwas anderes zu machen. Wenn sie Putzfrau bleiben will, soll sie in die Gewerkschaft eintreten.
Florin: Aber die Chance hat ja nicht jeder. Es hat ja nicht jeder die Chance, sondern, …
Hahn: Es hat jeder die Chance. Aber ich bitte Sie, warum hat nicht jeder die Chance? Aber sicher doch.
Florin: Weil nicht jeder, glaube ich, die Kraft hat, sich so von seinen Verhältnissen, von seiner Herkunft zu befreien wie Sie. Weil ja auch nicht jeder die Begabung hat und eine erfolgreiche Schriftstellerin werden kann.
Hahn: Ja .... Nein, nicht jeder, nein. Aber jemand, der so eloquent seine Dinge vertreten kann, der kann sicherlich auch etwas ändern. Und wenn er nur zum Betriebsrat geht und sagt: 'Hier, wir haben zu wenig Geld, wir wollen jetzt was dagegen tun.' Aber nicht nur immer meckern und sagen: 'Hier, Staat, mach mal' – das ist einfach zu wenig. Das haben wir übrigens damals in den 60ern oder 70er-Jahren auch nicht getan, wir haben unsere Belange in die Hand genommen. Das vermisse ich heute ein bisschen: die Belange selbst in die Hand nehmen und nicht einfach nur sagen: 'Hier, wir wollen das anders haben', sondern selber tun.
Florin: Aber wir haben zum Beispiel den Niedriglohnsektor, wo Leute drei, vier oder fünf Jobs haben, um überhaupt leben zu können. Ist es da wirklich die richtige Einstellung zu sagen: "Na, wenn Sie was Ordentliches gelernt hätten, wenn Sie an sich gearbeitet hätten" – so wie Peter Tauber das mal formuliert hat in dem Tweet, – "dann hätten Sie das nicht nötig"? Das ist zynisch.
"Es ist Lethargie eingetreten, Mutti Merkel hilf uns"
Hahn: Nein, das finde ich überhaupt nicht zynisch. Ich finde es zu bequem zu sagen: 'Ich habe keine Chance.' Es gibt Chancen. Sicher kann nicht jeder die Chancen ergreifen. Aber ich komme jetzt wirklich immer wieder zurück auf die Putzfrau. Die Putzfrau und auch dieser Pfleger (aus der Wahlkampfsendung), die waren beide für mich ein Beweis, dass das gestandene Leute waren, die wussten, wo es langgeht. Dann haben sie auch, meines Erachtens, die Verpflichtung, aus ihren Talenten etwas zu machen. Kommen wir mit der Bibel: Man soll sein Talent, sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Das stimmt auch. Das ist eine Herausforderung. Wenn Sie etwas können, sollten Sie etwas draus machen.
Florin: Na ja, aber …
Hahn: Sicher gibt es immer: 'Ja, aber', da haben Sie Recht, gibt es immer diejenigen, die das nicht können und die muss man auch unterstützen. Die werden auch in unserer Gesellschaft unterstützt, und wie.
Florin: Aber Pflegekräfte werden ja nicht besonders unterstützt.
Hahn: Nein.
Florin: Das hängt nicht alleine vom Einzelnen ab, sondern es gibt ja auch Bedingungen in dem System ...
Hahn: Richtig. Ja.
Florin: ... die einfach dafür sorgen, dass Menschen nicht so, wie es ihrer Arbeit entspricht, bezahlt werden.
Hahn: Richtig. Richtig. Und das muss man dann ... ich war bei der Pflegekraft noch nicht. Da muss man dann auch wirklich etwas dafür tun. Und da ist dann auch der Staat gefordert etwas zu tun. Und der Staat …
Florin: Also ist es doch nicht der Einzelne alleine?
Hahn: Doch, der Einzelne muss auch dafür eintreten, dass der Staat etwas tut. Es gibt die Gewerkschaften. Es gibt die Verbindungen. Es gibt in den Betrieben die Menschen, die etwas dafür tun könnten. Und an die muss man sich wenden. Ich finde, es ist auch so eine Lethargie eingetreten, ja, also, alles ... "Mama Staat macht das. Mutti Merkel, hilf uns". Das ist zu wenig. "Mutti Merkel" muss dann auch gepusht werden.
"Glaube macht nicht immer selig"
Florin: Aber vielleicht hat "Mutti Merkel" den Eindruck auch erzeugt, dass sie sich um alles kümmert, sogar ums private Glück.
Hahn: Nein, wieso das?
Florin: Ich finde schon, dass auch von Seiten der Politik der Eindruck erzeugt wird: Wir kümmern uns um dein Lebensglück, dass du "gerne und gut" in Deutschland lebst. Das ist ja weit mehr als ein Versprechen zu sagen: "Wir senken die Steuern" oder "Wir sorgen für die innere Sicherheit". Sondern das ist ja ein umfassendes Glücks- und Heilsversprechen, wenn man gut und gerne in einem Land lebt.
Hahn: Ja, klar, aber, richtig, aber das ist natürlich auch ein Wahlslogan, das ist ja klar. Die können ja da nicht eine ganze Litanei runterbeten. Also, da wäre ich doch schon etwas gnädiger, Frau Florin.
Florin: Aber trotzdem erzeugt auch ein Wahlslogan Erwartungen, und dann hinterher ärgert man sich, wenn man dran gemessen wird.
Hahn: Ach, nein, ich glaube nicht, dass Frau Merkel sich ärgert, wenn sie daran gemessen wird. Sie tut das, was sie kann. Das weiß sie auch, da ist sie auch sicher. Natürlich kann sie nicht alles. Aber wer das glaubt, der ist auch selig – und der Glaube macht leider nicht immer selig.
Florin: In Ihrem Buch ("Wir werden erwartet") steht der Satz: "Vielleicht ist man da zu Hause, wo man sich umdreht, wenn man weggeht." Ihr Roman ist auch eine Art Liebeserklärung, eine Art Heimatroman.
Hahn: Das kann man so sehen.
Florin: Mit allem Gespaltenen, Ambivalenten, was das Wort Heimat hat.
Hahn: Wissen Sie, ich glaube, ein Buch, das mich interessiert, das hat immer viele Facetten. Ein Heimatroman, ja, kann man durchaus so lesen als Strang. Das ist ein Liebesroman, wenn Sie so wollen, Liebesgeschichte mit Hugo, aber auch für den Vater, unbedingt.
Florin: Warum, meinen Sie, ist das Wort "Heimat" in letzter Zeit wieder so en vogue? Von der AfD bis zu den Grünen sprechen so viele Politiker von Heimat.
"Wir dürfen uns die Wörter nicht klauen lassen"
Hahn: Ja, wissen Sie, es hat mich immer schon ein bisschen gestört, dass dieses Wort "Heimat" von links so abgewehrt worden ist. Man lässt sich von einer Beschmutzung nicht ein Wort verderben. Das Wort "Heimat" ist natürlich von den Nazis irgendwie in eine Richtung gedrängt worden, die mir nicht gefällt. Ich habe einmal – schon vor vielen Jahren – ein Gedicht geschrieben, fällt mir in diesem Zusammenhang ein, über das Wort "Heimat". Das beginnt sinngemäß, ich kann das jetzt auch nicht auswendig: "Heimat, ich schüttele den braunen Dreck aus Deinen Silben". Und wir dürfen uns das Wort "Heimat" nicht klauen lassen. Wir dürfen uns überhaupt die Wörter nicht klauen lassen. Wir müssen sie so benutzen, wie wir sie für richtig halten. Auch die AfD kann mir so ein Wort nicht madig machen – das wäre ja noch schöner, wenn die so was könnten.
Florin: Frau Hahn, ich danke Ihnen für das Gespräch.